Kommentar Krieg in der Ukraine: Wo Deutschland dringend umdenken muss

Putins Aggression zeigt: Der Westen hat sich verkalkuliert, die Politik hat falsche Prioritäten gesetzt. Die deutsche Politik muss wieder lernen, existenzielle Fragen von Luxusproblemen zu unterscheiden.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, re.) konnte Russlands Präsident Wladimir Putin bei seinem Besuch im Kreml nicht von einem Militärschlag abbringen. - © picture alliance/dpa/RIA Nowosti/Mikhail Klimentyev

Die Lage in Europa ist so beklemmend wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Eine lange währende Phase des Friedens findet mit dem Einmarsch der Russen in der Ukraine ein jähes und brutales Ende.

Der Krieg in Osteuropa betrifft auch die Deutschen, denn unser Wohlstand und unser freiheitliches Lebensmodell sind bedroht. Putins Aggression zeigt: Der Westen hat sich verkalkuliert, die Politik hat falsche Prioritäten gesetzt. Die Ukraine zahlt dafür einen hohen Preis.

Die Nachrichten aus der Ukraine erreichen Deutschland zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Zwei Jahre planlose Bekämpfung der Corona-Pandemie haben das Land zermürbt. Die Bevölkerung hat sich über die Impfung und den Umgang mit Corona zerstritten. Viele Menschen sind demoralisiert, psychisch angeschlagen, erschöpft. In dieser verunsicherten Gesellschaft wächst der Einfluss radikaler politischer Parteien und Gruppierungen.

Verunsichertes Land

Inzwischen macht sich die Inflation im Alltag bemerkbar. Mieten übersteigen die Leistungsfähigkeit vieler Haushalte. Baugrund ist unbezahlbar geworden. Arme Leute müssen frieren und können sich die Tankfüllung nicht mehr leisten.

Gleichzeitig haben viele Deutsche den Glauben an die Leistungsfähigkeit ihres Staates verloren. Die Bundeswehr ist nur bedingt einsatzbereit. Brücken, Straßen und das Eisenbahnnetz sind marode. Behörden und Beamtenapparate haben sich in der Corona-Krise als eingeschränkt handlungsfähig erwiesen.

Manche Arbeitnehmer haben sich bequem zwischen Lockdown und Homeoffice eingerichtet und pochen unverdrossen auf Privilegien, obwohl dem Land der Abstieg droht. Unternehmer kapitulieren vor der Bürokratie – oder rufen wie selbstverständlich nach Subventionen, Staatshilfen und Alimenten. Und nun trifft dieses gesättigte, verunsicherte Deutschland ohne Ambition auf ein hochgerüstetes, entschlossenes Russland voller Aggression.

Falsche Prioritäten

In dieser Lage muss die Frage erlaubt sein, ob die Bundesregierung die richtigen Prioritäten setzt, wenn sie ihr Handeln vor allem der Energiewende unterwirft und Kleinprojekte zu epochalen Vorhaben stilisiert. Ob Nachhaltigkeit und Klimaschutz wirklich die Richtschnur der Brüsseler Politik sein sollten. Ob eine feministische und hochmoralisch aufgeladene Außenpolitik die beste Antwort auf Putins Gewalt darstellt. Gendersprache, Transsexuellengesetze und die Legalisierung von Cannabis mögen aktuell interessante Themen sein. Doch Russlands Militarismus, die galoppierende Inflation und ein reformbedürftiges Rentensystem verdienen mindestens so viel Aufmerksamkeit.

Nun wäre es unfair, allein der Ampel-Regierung die fragwürdige Priorisierung politischer Probleme anzulasten. Deutschland kämpft mit dem Erbe der Ära Merkel. Die Beschwichtigung Putins, die verkorkste Energiepolitik, der Aufwuchs an Bürokratie, der schleichende Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, unzureichend reformierte Sozialsysteme – die Weichen wurden unter Angela Merkel falsch gestellt. Ob ihr Nachfolger Olaf Scholz die Kraft aufbringt, das angeschlagene Land in dieser Gemengelage anders zu positionieren, darf nach den ersten Regierungsmonaten bezweifelt werden.

Grausame Ironie

Dass die Corona-Pandemie nun nicht mit einem "Freedom Day" endet, sondern mit einem Militärschlag Russlands, ist eine grausame Ironie des Schicksals. Nach der Pandemie und den Vorgängen im Osten kann es ein "Weiter so…" nicht geben. Und – selbst wenn Scholz und sein Wirtschaftsminister Habeck sich das vielleicht wünschen – auch ein "Weiter so" mit kleinen Kursänderungen wird nicht genügen. Diese Krise verschwindet nicht von allein und lässt sich auch nicht mit Geld lösen.

Deutschland muss andere Schwerpunkte setzen und Positionen räumen, die in Zeiten von Wohlstand und Überfluss vielleicht ihre Berechtigung hatten. Das Land muss seine Armee stärken. Die Energieversorgung darf nicht vorwiegend am Klimaschutz ausgerichtet werden. Der Inflation muss entschieden begegnet, ein Wirtschaftsschock wie in der Ölkrise der 1970er-Jahre verhindert werden. Die deutsche Politik muss wieder lernen, existenzielle Fragen von Luxusproblemen zu unterscheiden.

Im Interesse des Handwerks

Das ist auch im Interesse des Handwerks. Mit einem Aggressor im Rücken werden sich weder Lieferketten normalisieren noch kehrt das Vertrauen in den Freihandel zurück. Krieg, Konsumlust und Lebensfreude schließen einander aus. Wenn die Industrie auf breiter Front einbricht, wenn Arbeitsplätze verloren gehen, leiden auch kleine und mittlere Betriebe. Wenn die Bevölkerung sich weniger leisten kann, wenn Energiekosten nicht mehr zu schultern sind, darbt auch das Handwerk.

Die Party ist definitiv vorbei. Statt goldener 20er-Jahre erwartet uns eine Phase der Unsicherheit, des Verzichts und Wohlstandsverlusts. Doch kluge und lernwillige Politiker können in diesen Wochen beeinflussen, ob wir lediglich eine Delle im Wirtschaftswachstum erleben, ob Deutschland und Europa ein länger anhaltender Abschwung droht oder ob wir Zeitzeugen eines unumkehrbaren Abstiegs werden.

steffen.range@holzmann-medien.de