Eigentlich sind die Aussichten für die Fahrradbranche rosig. Die Nachfrage ist riesig, doch es mangelt an Personal. Wie die Branche damit umgeht und warum die guten Prognosen manchen Betrieben auch schaden könnten.

Die Fahrradbranche zählt zu den Gewinnern der Corona-Pandemie. Allein 2021 wurden 4,7 Millionen Fahrräder und E-Bikes verkauft, rund neun Prozent mehr als noch 2019. "Wir sind auf ein neues Level gesprungen", kommentierte Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands die Zahlen im März. Auch die Nachfrage nach Reparatur- und Serviceleistungen ist groß. Doch die Werkstätten können die Aufträge teilweise kaum noch stemmen. Entweder fehlen Ersatzteile oder es mangelt an Personal. Nötige Reparaturen und Inspektionen verzögern sich um Wochen, berichten Branchenkenner bei einer vom Pressedienst Fahrrad organisierten Veranstaltung.
"Die Branche hat es in den vergangenen Jahren verpasst, die guten Storys zu erzählen", erklärt Uwe Wöll den Fachkräftemangel. Die Perspektiven für Beschäftigte seien gut, die Arbeit bereite Freude, so der Geschäftsführer des Fahrradfachverbands Verbund Service und Fahrrad (VSF). Zudem befriedige die Branche den verbreiteten Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit. Das Fahren mit dem Rad ist nachhaltig, Reparaturen sind es sowieso.
Den größten Bedarf sieht Wöll im Fachhandel. "Mindestens 15.000 Stellen könnten sofort besetzt werden." Im Gegensatz zu anderen Bereichen im Handel legen Kunden beim Fahrradkauf weiterhin Wert auf die fachliche Beratung vor Ort. Stationäre Fahrradhändler konnten ihren Marktanteil zuletzt auf 73 Prozent ausbauen.
Rufe nach Modularisierung der Ausbildung
Auf der diesjährigen Eurobike, der größten und wichtigsten Fahrradmesse Deutschlands, will der VSF mit diesen Argumenten Auszubildende und Quereinsteiger für die Branche begeistern. Unter Mitwirkung der Industrie- und Handelskammer Frankfurt sowie der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main initiierte der Fachverband das "Career Center". Dort erwarten die Besucher Workshops, Schulungen und Shows in einer Gläsernen Werkstatt. "Man darf keine Wunder erwarten, aber ich denke, dass wir ein paar Akzente setzen können", sagt Wöll.
Er hofft, dass ihm das auch auf politischer Ebene gelingt. Lediglich 864 Menschen starteten 2021 eine Ausbildung zum Zweiradmechatroniker in der Fachrichtung Fahrradtechnik. Zum Vergleich: Fast 20.700 begannen im selben Jahr eine Lehre zum Kfz-Mechatroniker. Um die Ausbildung attraktiver zu gestalten, fordert Wöll eine Modularisierung der Ausbildungsinhalte. Quereinsteigern würde ein niedrigschwelliger Einstieg ermöglicht, wenn sie Qualifikationen berufsbegleitend in Bausteinen erwerben könnten.
Die Handwerksorganisation sieht Teilqualifikationen nicht als Alternative zur regulären dualen Ausbildung, wohl aber als eine Möglichkeit für all diejenigen, die auf dem klassischen Weg nicht zu einem Berufsabschluss gekommen sind. Voraussetzung dafür ist, dass die Teilqualifikation sich an den Ausbildungsinhalten und Rahmenlehrplänen orientiert und so konzipiert ist, dass die Teilnehmer am Ende einen Berufsabschluss erreichen können. Hierfür ist aus der Handwerksorganisation eine gute Weiterbildungsberatung und pädagogische Begleitung nötig. Da der Arbeitsmarkt an dieser Stelle nicht reguliert ist, steht es den Betrieben aber auch frei, nicht qualifizierte Personen einzustellen.
Nähe zur Automobilbranche ein Nachteil bei der Fachkräftesuche
Durch die fachliche Nähe zur Automobilbranche fischt die Branche in einem schwierigen Umfeld nach qualifiziertem Personal. Industrie und Kfz-Gewerbe können meist bessere Gehälter zahlen. In puncto Work-Life-Balance schneidet der Fahrradhandel mit Öffnungszeiten bis 18 oder 19 Uhr an fünf bis sechs Tagen pro Woche in der Regel ebenfalls schlechter ab. Wöll ist jedoch der Ansicht, dass einige Werkstätten durch eine effizientere Arbeitsteilung bei Geld und Arbeitszeiten durchaus noch nachbessern könnten.
"Wir passen unsere Gehälter und Strukturen in einem Maße an, wie es uns möglich ist. Aber manchmal reicht es eben nicht", sagt Stephanie Römer, Geschäftsführende Gesellschafterin bei Tout Terrain, einem Fahrradhersteller aus dem Schwarzwald. Gleitzeit, Home-Office, Teilzeitmodelle – all diese Angebote stünden ihren rund 30 Mitarbeitern offen. Für das kleine Unternehmen "eine echte Herausforderung", wie Römer sagt. Doch gerade die Erwartungshaltung jüngerer Mitarbeiter sei sehr hoch. Das kann auch Annette Blum bestätigen. Die Zweiradmechatronikerin leitet ein Fahrradgeschäft mit Werkstatt in Berlin. "Bei uns schlagen immer wieder Bewerber auf, die fahrradaffin sind, Bock auf die Arbeit hätten und aus der Autobranche wechseln würden. Letztlich scheitert die Einstellung aber doch am Lohn."
Lösungen für mehr Fachkräfte: Social Media und Schulen
Gesucht sind mitunter also Personen, die eine gewisse Begeisterung für das Produkt mitbringen und für eine sinnvolle Arbeit bereit sind, auch Abstriche in Kauf zu nehmen. Um sie zu finden, muss die Branche umdenken. Die klassische Stellenanzeige führe kaum noch zum Ziel, berichtet Römer. Seit April setzt sie mit Tout Terrain deshalb auf ein Social-Recruiting-System. Das lässt sich gut an. "Die Quantität der Bewerbungen hat rapide zugenommen, auch qualitative Bewerbungen waren dabei." Erfreulich sei, dass sich auch Personen angesprochen fühlten, die eigentlich gar nicht auf der Suche waren – darunter einige Branchenfremde, die einen persönlichen Bezug zum Fahrrad haben.
Ausbildungsleiter Christoph Hillebrand setzt beim Recruiting bereits in der achten Klasse der örtlichen Hauptschule an. Mit der SKS metaplast Scheffer-Klute GmbH, einem Hersteller von Fahrradzubehör im Sauerland, beteiligt er sich an einer städtischen Unternehmer-Initiative. "Wir setzen auf spielerische Events, in denen die Klassen gegeneinander antreten und einen von der Initiative bereitgestellten Preis gewinnen können." So könne früh und niederschwellig der Erstkontakt zu den Jugendlichen hergestellt werden. Den neunten Jahrgangsstufen aller Schulformen präsentieren sich die örtlichen Unternehmen bei einem Karriere-Infotag. Über Praktika und Schnuppertage lernen die Schülerinnen und Schüler die Unternehmen dann auch von innen kennen. Jährlich findet der mehrfach als Top-Ausbildungsbetrieb ausgezeichnete Hersteller auf diese Weise zehn Lehrlinge, die den eigenen Fachkräftebedarf sichern sollen.
Verteilungskämpfe innerhalb der Branche könnten zunehmen
Einig sind sich die Branchenvertreter, dass die Aussichten für den Fahrradmarkt prächtig sind. "Branchenexperten gehen von einem stabilen Wachstum bis mindestens 2030 aus", sagt Uwe Wöll. Die Mobilität werde sich verändern, Städte müssten fahrradfreundlicher werden. "Das wird uns zugutekommen." Zu erwarten sei jedoch auch eine Entwicklung hin zu größeren Unternehmen. Die Verteilungskämpfe innerhalb der Branche dürften zunehmen, schätzt der VSF-Geschäftsführer. "Gerade für kleine Betriebe wird die Fachkräftesuche damit mehr und mehr zur Herkulesaufgabe."