"Die Zahl der stationären Behandlungen ist viel zu hoch", sagt IKK-Classic-Vorstand Frank Hippler. Im Interview sprechen er und Signal-Iduna-Vorstand Ulrich Leitermann über Sparpotenziale im Gesundheitswesen, die Krankenhausreform und die Möglichkeiten des Gesundheitsministers.

Herr Hippler, Herr Leitermann, ist es nicht perspektivisch so, dass die Systeme Gesetzliche (GKV) und Private (PKV) Krankenversicherung stärker zusammenwachsen?
Frank Hippler: Vor zehn oder 15 Jahren war die Trennlinie zwischen GKV und PKV relativ strikt. Wenn ich mir anschaue, was wir in den letzten Jahren in der Zusammenarbeit zwischen Signal Iduna und IKK geschaffen haben, muss man sagen, dass wir uns sehr gut ergänzen. Der Standard- Schutz der GKV kann durch privaten Gesundheitsschutz optimiert werden. Wir arbeiten auch daran, dass es idealerweise für den Versicherten in der Wahrnehmung nur einen Ansprechpartner gibt. Insofern stehen wir nicht in einem Konkurrenzverhältnis, sondern in einer sinnvollen Ergänzung.
Ulrich Leitermann: Es sind zwei unterschiedliche Systeme, aber sie ergänzen sich gut. Wir unterscheiden uns natürlich durch die Art der Finanzierung und vertragliche Modalitäten. Deswegen wird es eine Fusion der Systeme nicht geben. Aber wir haben dieselben Interessen, zum Beispiel wenn es um die Reform des Gesundheitswesens geht, etwa bei der Digitalisierung. Insofern ist ein Schulterschluss richtig und notwendig.
"Wir haben Zusatzversicherte, die gesetzlich und privat versichert sind, also müssen Daten zentral in beiden Systemen abrufbar sein."
Ulrich Leitermann
Was wäre das konkret?
Leitermann: Ein Beispiel, wo die Zusammenarbeit funktioniert, ist die Telematikinfrastruktur. Wir wollen beide, dass unsere Kundendaten in die elektronische Patientenakte ePA kommen. Wir haben Zusatzversicherte, die gesetzlich und privat versichert sind, also müssen die Daten zentral in beiden Systemen abrufbar sein.
Bis jetzt ist die ePA doch aber kaum in Anwendung.
Hippler: Nur ein Prozent der Versicherten hat sie aktuell.
Leitermann: Deswegen ist es ja wichtig, dass wir jetzt das Opt-out Verfahren nutzen, das heißt, die Versicherten bekommen die elektronische Patientenakte und wenn sie sie nicht wollen, dann müssen sie sie aktiv abwählen. Sonst kriegen Sie da keinen Schwung rein. Der Durchbruch kommt erst dann, wenn die Ärzte sich durchgerungen haben, die Daten zur Verfügung zu stellen. Ich verstehe darum nicht, wie manche aus dem ärztlichen Bereich behaupten können, es gehe ihnen zu schnell.
In der Digitalisierung steckt doch auch Sparpotenzial.
Hippler: Das Opt-out-Modell bei der ePA ist schon mal ein ganz entscheidender Punkt. Auch der Zugang und das Führen der Akte müssen für den Patienten einfach sein. Zusätzlich sollte die Akzeptanz bei den Leistungserbringern hoch sein, um auch gemeinsam zu erkennen, welche Vorteile die ePA hat. Allein hier erschließen sich Sparpotenziale, zum Beispiel durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen. Die Digitalisierung kann die Gesundheitsversorgung aber nicht nur effizienter, sondern auch besser machen.
"Die Zahl der stationären Behandlungen ist viel zu hoch. Bei den Ausgaben ist das der größte Batzen in der GKV."
Frank Hippler
Im Moment herrscht das Gefühl vor, dass wir uns das System, so wie es ist, nicht mehr leisten können. Preis- und Beitragssteigerungen, Kapazitäten werden erhöht statt abgebaut. Was kann weg?
Hippler: Bei der Krankenhauslandschaft sind sich alle – Politik, Versicherer, Leistungserbringer – einig, dass sie weder qualitativ noch wirtschaftlich richtig aufgebaut ist. Wir haben Situationen, besonders in Ballungsgebieten, dass mehrere Krankenhäuser um Patienten und Personal konkurrieren. Aufgrund der Fallpauschalen produzieren sie zusätzlich hohe Fallzahlen. Die Zahl der stationären Behandlungen ist deshalb viel zu hoch. Bei den Ausgaben ist das der größte Batzen in der GKV. Ein Drittel der Kosten wird für stationäre Behandlungen bezahlt. Deswegen teilen wir auch die Haltung der Reformkommission, dass Krankenhäuser in Leistungsstufen eingeteilt werden sollen und nicht jedes Krankenhaus alles machen soll. Wir brauchen eine bedarfsorientierte, am Gesundheitszustand der Bevölkerung orientierte Krankenhausplanung.
Leitermann: Ich muss noch mal den Bogen über die Krankenhäuser hinaus spannen. Was unserem Gesundheitssystem fehlt, ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Das fängt bei der Vorsorge an und geht über die Akutversorgung bis zur Nachsorge. Überall gibt es Systembrüche. Das kostet Geld ohne Nutzen für die Patienten. Dies insgesamt aufzubrechen, ist eine Mammutaufgabe. Daher reicht allein das, was ich bisher zur Krankenhausreform gesehen habe, nicht aus. Hier sehen wir allenfalls einen Rückfall in eine Planwirtschaft. Bei der politischen Gemengelage aus Bund, Ländern und Kommunen kann ich mir nicht vorstellen, dass man sich da einigt. Ich habe die Sorge, dass das ein ganz fauler Kompromiss wird. Am Ende des Tages haben wir noch mehr Bürokratie und eine weitere Verwaltungsstelle, die Geld verteilen soll. Es wird Wettbewerb und das Bestreben nach Effizienz in den Krankenhäusern ausgeschaltet. Und da rede ich nicht über Personalabbau, sondern Effizienz in Prozessen.
Welche Rolle spielt denn Gesundheitsminister Lauterbach? Ist er eher Gegner oder Verbündeter?
Leitermann: Nach meinem Empfinden agiert er manchmal unglücklich und ad hoc. Den Veränderungswillen spreche ich ihm nicht ab, aber ich glaube, dass die Dinge noch stärker durchdacht werden müssen. Die Partner und Betroffenen sollten frühzeitig mit ins Boot genommen werden, um mit ihnen die Konzepte zu erarbeiten. Ich wünsche mir mehr konzertierte Aktionen. Diejenigen, die das System tragen und verbessern können, sollten an den Tisch geholt werden, um mit zu diskutieren – gerne auch hinter verschlossenen Türen, um nicht alles immer gleich über die Medien auszutragen. Es geht hier um die Gesundheit der Menschen und nicht darum, wer welchen Einfluss hat.
"Mit der Öffnungsklausel gegenüber den Landesministern, dass die regionalen Besonderheiten berücksichtigt werden, hat Lauterbach schon fast verloren in der Diskussion."
Frank Hippler
Hippler: Man kann ihm nicht absprechen, dass er diese Veränderung will. Ob er immer geschickt agiert, darüber kann man trefflich streiten. Er tut sich schwer, für seine Ideen Verbündete zu finden. Mit der Öffnungsklausel gegenüber den Landesministern, dass die regionalen Besonderheiten berücksichtigt werden, hat er schon fast verloren in der Diskussion. Am Ende stehen Kompromisse, die nicht zu den Veränderungen führen, die wir eigentlich brauchen.
Aber sowas wie die vorgeschlagenen Notfallzentren oder Leitstellen, die die Patienten an die richtige Stelle verteilen, sind doch erstmal keine schlechten Ideen.
Hippler: Das ist fast eins zu eins das, was Jens Spahn schon vor zweieinhalb Jahren geplant hatte. Die Patienten der richtigen Behandlung zuzuweisen, finden wir ausgesprochen richtig. Auch dieses Konzept wird aber wieder zu Verteilungskämpfen führen, weil der ambulante Bereich dem stationären keine zusätzlichen Einnahmen gönnt und umgekehrt.
Leitermann: Aus meiner Sicht sind Notfallzentren nicht die richtige Lösung. Die Frage ist doch, warum es so viele, auch vermeintliche Notfälle gibt, und wie lassen diese sich vermeiden? Das hängt damit zusammen, dass in der Struktur etwas nicht stimmt. Wir müssen strukturelle Änderungen vornehmen, damit eine Überlaufsituation gar nicht erst entsteht.
Dennoch nochmal die Frage: Was lässt sich an Leistungen kürzen?
Hippler: Wir glauben, dass der Katalog der GKV durchaus gut, teilweise aber ergänzungswürdig ist. Dass darin zig Leistungen stecken, die man einfach abwählen könnte, sehen wir nicht. Wir reden hier ja nicht über Luxusleistungen. So lange nicht alle Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben wurden – und das sind sie bei weitem nicht – sollten Leistungskürzungen überhaupt nicht in Erwägung gezogen werden. Schließlich macht sich auch der Staat an manchen Stellen einen schlanken Fuß. Wir bezahlen teilweise für gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die über Beiträge finanziert werden. Das ist ordnungspolitisch falsch. Es kann nicht sein, dass wir für einen Bürgergeldempfänger im Monat vom Staat 100 Euro Beitrag bekommen, aber durchschnittliche Ausgaben von 300 Euro haben. Das heißt, wir haben dort alleine einen Fehlbetrag von zehn bis elf Milliarden Euro pro Jahr in der GKV. Dasselbe gilt für Gesundheitskioske, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe haben und keine Versicherungsleistung sind, für die aber die Privaten und die Gesetzlichen aufkommen sollen.
"Es gibt sowieso schon genügend Belastungen für die Beschäftigten. Deswegen sehe ich weitere Leistungseinschränkungen kritisch."
Ulrich Leitermann
Könnte eine Eigenbeteiligung von 2.000 Euro, wie jüngst von Wirtschaftsprofessor Raffelhüschen gefordert, dem Anspruchsdenken nicht dennoch abhelfen?
Leitermann: Die Versicherten erbringen im gesetzlichen System ja schon eine ganze Menge an Eigenleistung. Es gibt sowieso schon genügend Belastungen für die Beschäftigten, wenn Sie etwa an Brillen oder Zahnbehandlungen denken. Deswegen sehe ich weitere Leistungseinschränkungen kritisch.
Hippler: Zumal in der Struktur immer noch genügend Sparmöglichkeiten liegen. Dazu gehört allerdings ein langer Atem.
Uns würde noch interessieren, was in der PKV gut ankommt. Gibt es eine Zunahme bei betrieblicher Krankenversicherung oder bei der Grundfähigkeitsversicherung?
Leitermann: Die Grundfähigkeitsversicherung wird im Markt sehr gut angenommen, auch weil gerade im Handwerk die Absicherung mit der Berufsunfähigkeitsversicherung auch zu vertretbaren Kosten für bestimmte Gewerke nicht so einfach war und ist. Die betriebliche Krankenversicherung ist ein absolutes Zukunftssegment. Der Arbeitskräftemangel nimmt immer mehr zu, nicht nur im Handwerk. Wir nehmen schon wahr, dass bei dem Kampf um Arbeitskräfte die Arbeitgeber gefordert sind, ihren auch potenziellen Arbeitskräften etwas zu bieten. Für viele Bewerberinnen und Bewerber stellt sich sehr früh die Frage, welche zusätzlichen Leistungen der Arbeitgeber bietet und da gehört die betriebliche Krankenversicherung unbedingt dazu. Im Gegensatz zur betrieblichen Altersversorgung ist die Wirkung noch unmittelbarer und der finanzielle Aufwand für die Unternehmen geringer, wobei betriebliche Zusatzleistungen insgesamt zur zusätzlichen Absicherung und deutlichen Steigerung der Arbeitgeberattraktivität sinnvoll sind, also die betriebliche Krankenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge und die betriebliche Unfallversicherung. So gewinne und binde ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die elektronische Patientenakte (ePA)
Seit dem 1. Januar 2021 können alle gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) ihrer Krankenkassen erhalten, in der medizinische Befunde und Informationen aus vorhergehenden Untersuchungen und Behandlungen über Praxis- und Krankenhausgrenzen hinweg umfassend gespeichert werden können. Die bessere Verfügbarkeit der Daten soll zu einer besseren persönlichen medizinischen Behandlung führen. Zeit, die bisher für die Informationsbeschaffung anfällt, soll stattdessen für die Behandlung genutzt werden. Doppeluntersuchungen sollen vermieden werden. Die Entscheidung und Kontrolle über die ePA und die darin gespeicherten Gesundheitsdaten liegen allein in der Hand der Patientinnen und Patienten: Sie können selbst bestimmen, ob und in welchem Umfang sie die ePA nutzen möchten, welche Daten in der Akte gespeichert oder gelöscht werden sollen und welchem Behandler sie ihre Daten zur Verfügung stellen wollen. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit
IKK Classic
Die IKK Classic wurde am 1. Januar 2010 in Dresden gegründet. Mit 3,1 Millionen Versicherten ist sie Deutschlands größte Innungskrankenkasse und betreut rund zwei Drittel der 5,2 Millionen IKK-Versicherten. Als Teil der Gesetzlichen Krankenversicherung nimmt sie den 7. Platz unter allen Krankenkassen und den 4. Platz unter allen bundesweit tätigen Krankenkassen ein.
Signal Iduna
Am 1. Juli 1999 schlossen sich die Dortmunder Signal Versicherungsgruppe und die Hamburger Iduna Nova Gruppe zur Signal Iduna Gruppe zusammen. Die beiden Ursprungsgruppen dieses Konzerns sind von Beginn an eng mit dem wirtschaftlichen Mittelstand aus Handwerk, Handel und Gewerbe verbunden: Während die Iduna Nova auf eine Initiative selbstständiger Handwerker und Gewerbetreibende zurückgeht, die 1906 eine Kranken- und Sterbekasse in Hamburg gründeten, ging die Signal Versicherung aus dem Willen zur Selbsthilfe Dortmunder Handwerksmeister hervor, die 1907 mit der Gründung einer Krankenunterstützungskasse dem Hamburger Beispiel folgten.
Leistungsgruppen in Krankenhäusern
Die Leistungsgruppen sind ein Baustein der Krankenhausreform. Sie sollen zukünftig die bislang geltende, unzureichend definierte Fachabteilungsstruktur ersetzen und eine zielgenauere Krankenhausplanung ermöglichen. Enger gefasste Leistungsbeschreibungen sollen sicherstellen, dass Patienten und Patientinnen nur dort behandelt werden, wo auch die technischen, personellen und qualitativen Voraussetzungen erfüllt sind.