Auf Stippvisite in Boxberg Kohleausstieg: Der Lausitz droht ein tiefgreifender Strukturwandel

Der drohende Kohleausstieg verunsichert die Handwerker in der Oberlausitz, aber Krisenstimmung herrscht keine. Ein Stimmungsbild aus Boxberg.

Ulrich Steudel

Dampfsäulen an der B 156: Das Kraftwerk prägt nicht nur mit seiner Silhouette die Gegend um Boxberg. Die Stromproduktion aus der Braunkohle versorgt die Region auch mit Wärme und gibt vielen Menschen Arbeit. - © Ulrich Steudel

Gigantische Wasserdampfsäulen steigen aus den Kühltürmen des Kraftwerks in den Himmel. Sie weisen den Weg in eine Gemeinde, die bis vor zwei Jahren zu den reichsten in Sachsen gehörte. Inzwischen gilt eine Haushaltssperre, weil Boxberg einen zweistelligen Millionenbetrag Gewerbesteuer zurückzahlen musste. Vattenfall, ehemaliger Betreiber der Braunkohleanlagen, begründet seine Forderungen mit geringeren Erlösen wegen gesunkener Strompreise.

1,3 Milliarden Euro Wertschöpfung

In Boxberg stand einst das größte Kraftwerk der DDR. Heute werden von der Leag, die die Kohleverstromung in der Region zwischen Sachsen und Brandenburg übernommen hat, noch 18 Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr erzeugt. Den Brennstoff dafür fördert das Bergbau- und Energieunternehmen mit tschechischen Eigentümern in den Tagebauen Reichwalde und Nochten, beide auf dem Gemeindegebiet von Boxberg gelegen. Mit seinen rund 8.000 Mitarbeitern sorgt die Leag nach eigenen Angaben zusammen mit 3.300 Partnerfirmen für eine jährliche Wertschöpfung von 1,3 Milliarden Euro.

Die Lausitz lebt also immer noch von der Stromproduktion aus Braunkohle. Aber der Strukturwandel greift bereits um sich. 60 Prozent der Handwerker blicken mit Sorgen in die Zukunft, wie eine Umfrage der Handwerkskammern Dresden und Cottbus ergab. Dennoch will kaum jemand schwarzmalen.

Handwerksbetriebe plagen Personalsorgen

Gerüstbau im Kraftwerk: Mit diesem Angebot hat sich ISL aus Boxberg ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet. - © Ulrich Steudel

Am Eingang ins Industriegebiet West versperrt eine Schranke den Weg. Wer einen der Handwerksbetriebe auf dem 18 Hektar großen Areal des alten Kraftwerks besuchen möchte, muss seinen Ausweis zeigen und bekommt einen Lageplan. Straßen aus Betonplatten führen durch eine graue Industrielandschaft.

In einem schmucklosen Mehrzweckgebäude hat der Industrieservice Lausitz (ISL) sein Büro. Von hier aus steuert Geschäftsführerin Ramona Schuppan rund 60 Gerüstbauer, die in Kohle- und Kernkraftwerken bundesweit im Einsatz sind. Dass ihnen die Arbeit ausgeht, befürchtet sie nicht. „Selbst wenn ein früher Kohleausstieg kommt, wird der Rückbau noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen“, glaubt die Diplom-Betriebswirtin und verweist auf die Atomkraftwerke, wo trotz Ausstieg die Nachfrage nach Gerüstbaudienstleistungen gerade wachse.

Sorgen bereitet ihr vielmehr der Personalengpass. Jeder zweite Mitarbeiter bei ISL ist über 50, der Krankenstand hoch. Neue Leute zu bekommen, gestalte sich schwierig. „Das Geld ist nicht das Problem. Aber niemand will mehr auswärts arbeiten“, beklagt Schuppan. Zwar hat sie 2018 zwei neue Leute eingestellt, aber benötigt würden 15 bis 20. Deshalb muss die Geschäftsführerin viele Aufträge ablehnen, damit die festen Kunden bedient werden können.

Ähnlich geht es Wolfram Melcher, Geschäftsführer der GTS Boxberg GmbH. Durch die gute Auftragslage ist das SHK-Unternehmen mit 30 Mitarbeitern längst nicht mehr von den Service-Verträgen mit der Leag abhängig. Zwei Drittel der Belegschaft arbeitet für die Deutsche Bahn, baut Schulen oder Autobahnraststätten. „Wir haben ja gewusst, was passieren wird“, sagt Melcher, der 1977 als Betriebs­ingenieur für Klimatechnik ins Kraftwerk kam und im Jahr 2000 zu den Mitbegründern der Gebäudetechnik und Service GmbH gehörte. Vom Strukturwandel erhofft sich Melcher eine bessere Verkehrsanbindung der Region und schnelleres Internet. Die Ansiedlung von neuen Industriearbeitsplätzen sieht er hingegen skeptisch. Dann werde es noch schwieriger für das Handwerk, neue Fachkräfte zu finden.

Verlust an Kaufkraft befürchtet

Augenoptikermeister Roland Homola. - © Ulrich Steudel

Andererseits fürchten viele Handwerker einen spürbaren Kaufkraftverlust, sollte es keine Ersatzarbeitsplätze in der Industrie geben. „Wir sind Dienstleister und brauchen solvente Kunden“, betont Roland Homola.

Sein Geschäft für Augenoptik und Hörakustik in Wittichenau profitiert seit Jahrzehnten von der Nähe zu den Kohlezentren Boxberg und Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda. Zu DDR-Zeiten mussten die Arbeiter, die das Land mit Strom und Wärme versorgten, trotz Materialmangel mit Sehhilfen versorgt werden. Heute bringen Bergleute und Knappschafts-Rentner dank ihres guten Einkommens Umsatz. Aber die Tagebaue sollen schließen und die Zahl der Rentner sinkt von selbst. Roland Homola, von 2002 bis 2017 im Vorstand der Handwerkskammer Dresden, kritisiert Versäumnisse der Politik. Während in Leipzig, Dresden und Chemnitz industrielle Leuchttürme gefördert wurden, sei das flache Land in Vergessenheit geraten. „Für eine wirtschaftlich nachhaltige Zukunft brauchen wir Ersatzarbeitsplätze“, sagt der Augenoptikermeister.

Damit spricht er Steffen Söll aus der Seele. Der Unternehmer engagiert sich im Vorstand des Vereins „Pro Lausitzer Braunkohle“ und fordert wie die Handwerkskammer Dresden für die Lausitz eine Modellregion mit Steuererleichterungen und Investitionsanreizen. Sein Industrieunternehmen für Sondermaschinen- und Anlagenbau im Boxberger Ortsteil Kringelsdorf war zu 80 Prozent von der Leag abhängig, hat sich aber neue Geschäftsfelder gesucht. „Ein kleiner Handwerksbetrieb kann aber nicht so einfach sein Produktportfolio ändern“, sagt Söll und fürchtet: „Wenn es nicht gelingt, Ersatzstrukturen aufzubauen, dann wird das hier ein Jammertal.“

Dabei waren die Tagebaue Nochten und Reichwalde zusammen mit dem Kraftwerk für Boxberg mit seinen 18 Ortsteilen lange Zeit wie Goldgruben, bescherten dem Ort über Jahre hohe Steuereinnahmen. Der ehemalige Tagebau Bärwalde wurde geflutet und zieht als Sachsens größter See inzwischen ebenso Urlauber an wie der Findlingspark Nochten. Tourismus kann jedoch die Wertschöpfung aus der Kohleverstromung nicht annähernd ersetzen, gibt Roman Krautz zu bedenken, zuständig für Wirtschaftsförderung in Boxberg.

Die Gemeinde hat in einem Strategiepapier ihre wirtschaftspolitischen Ziele unter dem Stichwort „2045+“ formuliert. „Aber was nützen uns die Pläne, wenn andere über uns bestimmen“, fragt sich Krautz und schiebt gleich die nächste Frage hinterher: „Was denkt ein 16-Jähriger, der wichtige Entscheidungen für sein weiteres Leben treffen muss?“

Bauunternehmer: „Es lohnt sich, in der Lausitz zu leben.“

Mario Weier, Bauunternehmer und Ortsvorsteher von Nochten. - © Ulrich Steudel

Genau deshalb ärgert sich Mario Weier über die negativen Darstellungen der Region. Der Bauunternehmer und ehrenamtliche Ortsvorsteher von Nochten sieht die Lausitz in einem positiven Licht. „Es lohnt sich, hier zu leben. Wir haben durchaus gute Perspektiven“, sagt Weier und liefert auch gleich die Argumente. Im Gegensatz zu den Metropolen, wo wohnen immer teurer wird, biete die Lausitz eine preiswerte Alternative. Viele Eigentumswohnungen, die sein in Weißwasser ansässiger Betrieb mit 20 Mitarbeitern baut, werden von Berlinern gekauft. Es gebe auch Rückkehrer aus den alten Bundesländern, die im Homeoffice weiter für ihre Arbeitgeber im Westen tätig sind und gutes Geld verdienen. Deshalb wünscht sich Weier vor allem gute Verkehrsanbindungen und schnelles Internet. Außerdem biete Boxberg durch das Kraftwerk gut erschlossene Gewerbeflächen, die für Ansiedlungen attraktiv seien.

Trotzdem kann Mario Weier die Politik nicht recht verstehen, denn auch er sieht die Gefahren eines abrupten Kohleausstiegs: „Stellen Sie sich vor, es dürften keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr gebaut werden und in Wolfsburg wird die Produktion eingestellt. So läuft das derzeit hier, nur etwas kleiner.“