Beim Solar Decathlon Europe 21/22 entwickeln Hochschulteams Ideen für nachhaltiges und energieeffizientes Bauen im urbanen Raum. Das Team aus Biberach baut bei der praktischen Umsetzung auf die Handwerker unter den Studenten.

Wenn der Sommer beginnt, wird Wuppertal zum Zentrum des nachhaltigen und energieeffizienten Bauens. Dann stellen sich 18 Hochschulteams aus elf Ländern beim Solar Decathlon Europe 21/22 einem Wettbewerb um die besten Ideen für eine klimafreundliche Entwicklung der Städte.
Gerade entstehen aus den Visionen kleine Musterhäuser, die vom 10. bis 26. Juni am Mirker Bahnhof ausgestellt werden. Die Energie für Wärme und Strom soll die Sonne liefern. In den sogenannten Demonstratoren steckt die Technik von morgen. Bei deren Bau und Installation kommt es auf handwerkliches Können an.
Das Team X4S von der Hochschule Biberach stellt sich der Aufgabe, den Demonstrator komplett aus eigener Kraft zu bauen. Denn zur Mannschaft gehören sowohl SHK-Anlagenmechaniker als auch Zimmerer. Sie absolvieren über das sogenannte Biberacher Modell eine Verbundausbildung, die Gesellen- und Meisterbrief mit einem Ingenieurstudium verknüpft.
Solarer Zehnkampf
Unter Leitung von Lena Frühschütz, Masterabsolventin für Energie- und Gebäudesysteme, und Andreas Gerber, Professor für Bauphysik und Thermodynamik, wollen die Studenten zeigen, wie durch Aufstockung neuer Wohnraum entstehen kann, ohne weitere Flächen zu versiegeln. Als Beispiel nutzen sie das Café Ada im Mirker Quartier von Wuppertal.
Dabei sollen eine ressourcenschonende Bauweise sowie eine energieerzeugende und hochwärmegedämmte Gebäudehülle in Passivhausstandard mit wartungsarmer Haustechnik den Nachhaltigkeitsgedanken des solaren Zehnkampfes umsetzen. Denn die Veranstalter des diesjährigen Wettbewerbs richten erstmals in der Geschichte der weltweiten Solar Decathlons den Fokus auf nachhaltiges Bauen und Leben in der Stadt. Dort, wo die größten Potenziale für die urbane Energiewende liegen, sollen die Teilnehmer nach den besten Lösungen suchen. Ihre Ideen können sie am Beispiel eines ehemaligen Arbeiterviertels in Wuppertal entwickeln.
Nachhaltigkeit ohne Kompromisse
Im Mirker Quartier mit 800 Gebäuden und rund 8.600 Einwohnern prägen ein niedriges Mietniveau, eine multikulturelle Gesellschaft, aber auch Leerstand oder brachliegende Gewerbeflächen das Bild. Um die Attraktivität des Viertels zu steigern und gleichzeitig die Energiewende zu meistern, stehen den Teams beim Solar Decathlon drei Bauaufgaben zur Auswahl: Erweiterung, Baulückenschluss oder Aufstockung.
Die Studenten aus Biberach haben sich letzterer verschrieben, getreu dem Motto ihres Teams. X4S steht für Extension for Sustainability, man könnte auch Nachhaltigkeit ohne Kompromisse sagen. Das Projekt teilt sich in einen architektonischen Entwurf für das reale Gebäude (Design Challenge) und das Musterhaus auf einer Fläche von rund 70 Quadratmetern, an dem die technischen Lösungen für Holzbau und Haustechnik umgesetzt werden müssen (Building Challenge). Herzstück ist das Technikmodul, das gerade in einer Werkhalle am Stadtrand von Biberach komplett vorgefertigt wird.

Haustechnik konzipiert
Fabian Hieber, Tobias Jehle und Florian Prüssing studieren im sechsten Semester Energie-Ingenieurwesen, Fachrichtung Technische Gebäudeausrüstung (TGA). Im Rahmen ihrer Projektarbeit haben die gelernten SHK-Anlagenmechaniker die Haustechnik konzipiert, dimensioniert und ein hydraulisches Schema erstellt. Ende Februar modifizieren sie die Sole-Wasser-Wärmepumpe, die aus den kombinierten Photovoltaik- und Solarthermie-Kollektoren (PVT) an der Fassade gespeist wird. Sie versorgt über einen Pufferspeicher und den sogenannten Active- Layer die Fußbodenheizung.
Dafür hat das Team das Prinzip der Betonkernaktivierung auf den Holzbau übertragen. "Als Speicher nutzen wir die Beschwerung der Holzdecken für die Trittschalldämmung", erklärt Fabian Hieber, der wie Tobias Jehle weiterhin von seinem Ausbildungsbetrieb Alois Müller in Ungerhausen bezahlt wird. Auch Florian Prüssing steht während des Studiums bei seinem Lehrbetrieb Gaiser Gebäudetechnik in Heidenheim unter Vertrag. Die Projektarbeit hat ihm Spaß gemacht, auch wenn nicht immer alles rund gelaufen ist. „Man lernt viel über den Bezug von Theorie und Praxis“, sagt der 24-Jährige.
Mit Gesellenbrief zum Studium
Prof. Andreas Gerber wünscht sich schon in der Schule mehr Werbung für solche dualen oder kooperativen Studiengänge wie beim Biberacher Modell. "Wir könnten viel mehr junge Leute mit einer abgeschlossenen Handwerkslehre ausbilden. Denn die Anforderungen im Handwerk steigen. Zukunftsfähige Bau- und Ausbaubetriebe müssen inzwischen den kompletten Ablauf von der Planung bis zur Ausführung beherrschen", sagt der Physiker mit Gesellenbrief als Heizungs- und Lüftungsbauer. Beim Projekt für den Solar Decathlon gefällt Gerber vor allem der interdisziplinäre Ansatz, der die Zusammenarbeit von Architekten, Projektmanagement, Holzbauern und Energietechnikern stärkt.

Fachübergreifender Austausch
Das empfinden auch die Zimmerer Tarik Welch und Max Möschl so, die über das Biberacher Modell Holzbau-Projektmanagement/Bauingenieurwesen studieren. "Das gewerkeübergreifende Arbeiten oder der Austausch mit den Architekten baut Vorurteile ab. Es fördert das gegenseitige Verständnis auf der Baustelle", sagt Tarik Welch. Er hat bei der Zimmerei Kehrer in Tübingen gelernt.
Anders als die Anlagenmechaniker verlassen die Zimmerer im Biberacher Modell nach der Lehre ihren Ausbildungsbetrieb. Danach beginnen sie ohne Vorpraktikum das Studium im zweiten Semester. Abschließend folgen Polierkurs und die Meisterausbildung. Innerhalb von fünf Jahren und drei Monaten haben die Teilnehmer Gesellen- und Meisterbrief, Polierschein und den Abschluss als Bachelor of Engineering in der Tasche.
Max Möschl hat bei der Zimmerei Keller im unterfränkischen Laufach gelernt. Jetzt verlegt er im Bad des Demonstrators die Schalung aus einheimischer Robinie für die offene Dusche. Statt einer Duschwanne setzen die Zimmerer auf eine Art Holzrost wie in einer Sauna. "Den Boden darunter schützen wir mit einer Flachdachabdichtung", erklärt Möschl. Zur Verschalung der Wände haben die Zimmerer leim- und formaldehydfreie ESB-Platten gewählt.
Hoher Grad an Autarkie
Insgesamt steckt der Biberacher Beitrag für den Solar Decathlon voller Innovationen. So planen die Architekten für die Decken des Holzbaus quer vorgespannte Lamellen. Diese Bauweise stammt aus dem Brückenbau, aber im Geschosswohnungsbau ist sie neu. Vorteil: Die Bauteile sind zerlegbar und können im Sinne der Kreislaufwirtschaft wiederverwendet werden. Bei der Elektroinstallation vertraut das Team auf ein Gleichstromnetz, das für einen hohen Wirkungsgrad des modularen PV-Batteriesystems sorgt. Alles in allem streben die Studenten bei ihrem Projekt nach einem möglichst hohen Grad an Autarkie.
In den nächsten Wochen laufen die Vorbereitungen auf den Wettbewerb weiter auf Hochtouren. Ab 20. Mai müssen die Teams ihre Musterhäuser in Wuppertal innerhalb von zwei Wochen aufbauen. Das bedingt einen hohen Vorfertigungsgrad. Und so wartet auf die Biberacher Studenten noch ein gehöriges Stück Arbeit. "Ohne unsere Erfahrungen aus der Lehre im Handwerksbetrieb könnten wir das mit Sicherheit nicht stemmen", sind sich die SHK-Anlagenmechaniker und die Zimmerer im Team einig.
Infos zum Solar Decathlon
Der Solar Decathlon findet vom 10. bis 26. Juni 2022 auf dem Solar Campus in Wuppertal statt. Die Gebäude sind für Besucher vom
10. bis 12. Juni, 16. bis 19. Juni und 22. bis 26. Juni 2022 geöffnet. Der Eintritt ist gratis. Während der Öffnungszeiten werden zudem kostenfreie Führungen in den 16 Gebäuden angeboten. >>> Hier geht's zu den Tickets für den Solar Decathlon.