Interview mit Karl-Sebastian Schulte Politisch festgesetzter Mindestlohn: "Bedrohlich und falsch"

Die Ampel-Parteien wollen die gesetzliche Lohnuntergrenze rasch auf zwölf Euro erhöhen. "Der Mindestlohn wird zum politischen Spielball", warnt Karl-Sebastian Schulte, Mitglied der Mindestlohnkommission und Geschäftsführer des Unternehmerverbandes Deutsches Handwerk (UDH). Im DHZ-Interview spricht er über einen drohenden Kaminzugeffekt und gute Ansätze im Sondierungspapier.

Karl-Sebastian Schulte, Geschäftsführer des Unternehmerverbandes Deutsches Handwerk (UDH), vertritt die Arbeitgeberseite in der Mindestlohnkommission. - © ZDH/Boris Trenkel

DHZ: Immer wieder haben Sie vor einer politischen Festsetzung des Mindestlohns gewarnt. Warum ist die Tarifautonomie so schützenswert?

Karl-Sebastian Schulte: Je näher die Verhandelnden an den Arbeitgebern, Beschäftigten und Auszubildenden sind, desto besser sind auch die Ergebnisse. Die Sozialpartner kennen die Situation in der jeweiligen Branche und Region und können so einen vernünftigen Interessensausgleich aushandeln. Zumal das sozialpartnerschaftliche System gerade im Handwerk bewiesen hat, dass es funktioniert. Nehmen wir nur mal die jüngste Tarifeinigung im Bauhauptgewerbe oder die zahlreichen Branchenmindestlöhne als Beispiele. Bei einer politischen Festsetzung spielen oftmals ganz andere Dinge eine Rolle als die tatsächliche Marktsituation. Die Bundestagswahl ist hierfür ein anschauliches Beispiel.

Schätzungen zufolge würden rund 8,6 Millionen Beschäftigte von einem Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro profitieren. Scheinbar gelingt es Arbeitgebern und Gewerkschaften nicht, die unteren Lohngruppen von selbst anzuheben...

Das ist nur die halbe Wahrheit. Ein gesetzlicher Mindestlohn von zwölf Euro würde fast 200 Tarifverträge verdrängen. Wir reden hier also über Bereiche, in denen Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam Vergütungen ausgehandelt haben, die aus guten Gründen nicht höher liegen, da sie andernfalls nicht tragfähig wären. Diese Vereinbarungen sollen jetzt durch eine gesetzliche Vorgabe ausgehebelt werden.

Um ein Rentenniveau oberhalb der Grundsicherung zu garantieren, reicht der aktuelle Mindestlohn nicht aus. Tatsächlich wären nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums hierfür sogar 12,63 Euro Mindestlohn nötig…

Der gesetzliche Mindestlohn ist hierzulande nie ein Instrument gewesen, das rentenpolitisch motiviert war. Die Lohnuntergrenze wurde in Deutschland eingeführt, um sittenwidrige Vergütungen und Schmutzkonkurrenz zu verhindern. Im Ausland verhält es sich teilweise anders, dort sind die Sozialsysteme auch anders angelegt. Altersarmut kann man besser und zielgenauer mit anderen Mitteln vorbeugen.

"Die Lohnuntergrenze wurde in Deutschland eingeführt, um sittenwidrige Vergütungen und Schmutzkonkurrenz zu verhindern. Altersarmut kann man besser und zielgenauer mit anderen Mitteln vorbeugen."

Karl-Sebastian Schulte

Ökonomen und auch Sie warnen davor, dass ein politisch festgesetzter Mindestlohn Jobs kosten würde. Wenn wir jetzt mal zurückschauen: Wie hat sich die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 rückblickend im Handwerk ausgewirkt?

Viele hatten damals – wie auch ich – die Sorge, dass ein gesetzlicher Mindestlohn Beschäftigung kosten kann, wenn man ihn nicht klug und behutsam einführt. Eine weitere Befürchtung war, dass eine Lohnuntergrenze den Zugang Ungelernter zum Arbeitsmarkt verhindert. Das ist in dieser Breite glücklicherweise nicht eingetreten. Das hat aus meiner Sicht drei Gründe. Erstens war die Grenze von 8,50 Euro nicht zu hoch. Zweitens ist der gesetzliche Mindestlohn damals in einer konjunkturell äußerst günstigen Situation eingeführt worden, die letztlich fast zehn Jahre gehalten hat. Drittens wurden bewusst Brücken gebaut, indem bestehende Tarifverträge mit Vergütungen unterhalb der Lohnuntergrenze zunächst weiterhin Bestand hatten. Schaut man genau hin, gab es in strukturschwächeren Gegenden und personalintensiven Bereichen durchaus Arbeitsmarkt- und Jobeffekte. Die fielen in der Summe aber nicht dramatisch ins Gewicht.

Die 8,50 Euro hat das Handwerk 2015 also gut weggesteckt. Zwölf Euro Mindestlohn würden die Branche aber überfordern?

Die Situation jetzt ist eine deutlich sensiblere als 2015. Durch Pandemie und Lieferkettenstörungen ist die Lage sehr fragil. Ich kann meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, welche Folgen das für einzelne Gewerke und Regionen hätte.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund argumentiert, eine Mindestlohnerhöhung würde die Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen stärken, was wiederum der Wirtschaft helfe, die Krise zu bewältigen. Glauben Sie nicht an diese Konsumeffekte?   

Natürlich sucht jede Seite Argumente für ihre politischen Forderungen, aber so monokausal sind die Wirkungsketten nicht. Wir befinden uns in einer Inflationsphase, die Energiepreise steigen und manches mehr. Ob dann wirklich mehr bleibt für Konsum, ist fraglich. Zumal höhere Lohnkosten auch steigende Preise bedeuten. Wir haben bei den letzten Mindestlohnanpassungen außerdem beobachten können, dass in bestimmten Bereichen eben nicht das Monatseinkommen gestiegen ist, sondern sich die Arbeitszeit reduziert hat – somit habe ich auch keinerlei Konsumeffekte.

Welche Betriebe wären die Verlierer von zwölf Euro Mindestlohn?

In der Vergangenheit war es vor allem für strukturschwache Gegenden schwierig. Ebenso im Dienstleistungsbereich, der besonders personalintensiv ist. Im produzierenden Gewerbe sind die Betriebe anfällig, die einen hohen Lohnkostenanteil in ihren Produkten haben. Bei einem industriell gefertigten Brötchen ist dieser wesentlich geringer als bei einem handwerklich gebackenen – beide stehen jedoch im Wettbewerb zueinander. Im Reinigungshandwerk gibt es langlaufende Verträge und gerade die öffentliche Hand als Auftraggeber ist skandalöserweise nicht zu Anpassungen bereit.

"Gerade die öffentliche Hand als Auftraggeber ist skandalöserweise nicht zu Anpassungen bereit."

Karl-Sebastian Schulte

Sollte besser die Ausweitung der Tarifbindung als die gesetzliche Lohnuntergrenze ins Visier genommen werden?

Eine Tarifbindung kann gesetzlich nicht angeordnet werden. Es kann niemand gezwungen werden, sich kollektiv als Arbeitgeber oder Gewerkschaft zu organisieren. Die Politik kann aber Anreize schaffen und den Spielraum für Sozial- und Tarifpartner ausweiten statt einengen – zum Beispiel mit Tariföffnungsklauseln. Hier gibt es interessante Ansätze im Sondierungspapier, zum Beispiel in puncto flexible Arbeitszeitgestaltung. Die Tarifvertragsparteien sollten in bestimmten Bereichen von rechtlichen Rahmenbedingungen abweichen dürfen, wenn sie sich gemeinschaftlich darauf verständigen können. Wenn die neue Bundesregierung den Gestaltungsspielraum erhöhen würde, wäre das ein wirklich gutes Signal. Wir sollten alle Kraft darauf verwenden, die Tarifbindung dort zu stärken, wo sie schwächer geworden ist. In vielen Handwerksbereichen funktioniert sie aber glücklicherweise nach wie vor sehr gut.

Mit einer Anhebung auf zwölf Euro würde der Staat zum zweiten Mal massiv in die Tarifautonomie eingreifen. Sehen Sie die Gefahr, dass sich daraus ein Mechanismus entwickelt und sich die Parteien künftig einen politischen Überbietungswettbewerb liefern?

Die ehemalige SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles warnte – nachdem sie den Mindestlohn eingeführt hatte – selbst davor, die Lohuntergrenze in Zukunft noch einmal politisch festzusetzen. Andernfalls würden "Willkür und Populismus Tür und Tor" geöffnet. Genau dorthin steuern wir gerade. Der Mindestlohn wird zum politischen Spielball. Wenn man die Lohnuntergrenze jetzt zum zweiten Mal gesetzlich festlegt, dann ist die Gefahr groß, dass das auch ein drittes und viertes Mal geschieht. Das halte ich für bedrohlich und falsch. Wir brauchen ein System, das möglichst frei von politischen Einflüssen ist. Das war bislang die Mindestlohnkommission.

"Wenn man die Lohnuntergrenze jetzt zum zweiten Mal gesetzlich festlegt, dann ist die Gefahr groß, dass das auch ein drittes und viertes Mal geschieht"

Karl-Sebastian Schulte

Kann die Mindestlohnkommission denn so einfach umgangen werden?

Natürlich entscheidet am Ende der Gesetzgeber auf Vorschlag einer neuen Bundesregierung. Wir können nur davor warnen, welcher Schaden der Sozialpartnerschaft dadurch mittel- bis langfristig droht. Umso wichtiger wäre, die zwölf Euro zumindest mit einem echten Tarifvorrang zu verbinden.

Im Sondierungspapier haben die Ampel-Parteien festgehalten, dass der Mindestlohn bereits im ersten Regierungsjahr erhöht werden soll. Damit bliebe Arbeitgebern kaum Zeit, ihre Lohnstrukturen anzupassen. Ist dieser Zeitplan denn realistisch?

Das müssen Sie die Spitzen der SPD, Grünen und FDP fragen. Es wird sicherlich Teil der Beratungen sein, ob und wie das umzusetzen ist. Eine Rolle spielt auch, wie schnell eine neue Regierung zueinander findet und in die Gesetzgebungsarbeit einsteigt. Natürlich würden die Betriebe von einer raschen Anhebung überrumpelt. Das bisherige System folgt klaren Regeln, damit es für alle Wirtschaftsbeteiligten ein vorhersehbarer und einigermaßen planbarer Prozess ist. Wir treffen unsere Entscheidungen bewusst mit Vorlauf, geben einen Planungshorizont für zwei Jahre und jeder kann im Gesetz nachlesen, dass sich die Mindestlohnkommission an der Tarifentwicklung der letzten zwei Jahre orientiert. Ich finde, das ist ein sehr verlässliches System, bei dem alle wissen, woran sie sind – und das jetzt durchbrochen werden soll.

Die SPD spielte schon vor der Wahl mit dem Gedanken, der Mindestlohnkommission neue Regeln an die Hand zu geben, wonach sie sich stärker an der Entwicklung mittlerer Einkommen orientieren müsste. Durch den nachlaufenden Prozess hinkt der gesetzliche Mindestlohn der Entwicklung der Tariflöhne und der allgemeinen Lohnentwicklung hinterher. Wäre es da nicht sinnvoll, das bisherige System zu überdenken?

Die Tarifentwicklung bleibt für mich der sinnvollste Maßstab, denn sie ist Ausfluss autonomer sozialpartnerschaftlicher Vereinbarungen. Letztlich führt uns das zurück zu der Frage, was für ein Instrument man möchte. Soll es eines sein, das nach unten hin Missbrauch im Arbeitsmarkt verhindert, gleichzeitig aber die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt nicht zu hoch setzt? Oder möchte man ein sozialpolitisches Instrument zur Existenzsicherung? Da bleibe ich dabei: Eine gesetzliche Lohnuntergrenze ist für mich hierfür nicht das beste Mittel. Ich kenne auch keine wissenschaftliche Studie, die das bestätigen könnte.

Was schlagen Sie stattdessen vor, um Altersarmut zu bekämpfen?

Es braucht ein ganzes Bündel an Instrumenten. Über gute Bildungspolitik, mehr Teilhabe am Arbeitsmarkt und Qualifikation können Erwerbsverläufe ermöglicht werden, die ein vernünftiges Alterseinkommen sichern. Es ist doch ein viel besserer Ansatz, wenn man die Leute aus dem Niedriglohnsektor herausholt, anstatt nur ihren Mindestlohn anzuheben, wodurch sich vielleicht nicht einmal der Monatslohn erhöht.

Aber auch die Arbeiten im Niedriglohnsektor muss jemand verrichten…

Der Helfermarkt nimmt tendenziell ab, im gewerblich-technischen Bereich zum Beispiel aufgrund von Automatisierung. Aber Sie haben recht, es wird immer auch Hilfstätigkeiten geben. Da halte ich es für sinnvoll, sozial- und rentenpolitisch darauf zu antworten. Und einmal Helfer, muss ja nicht immer Helfer heißen. Viele junge Leute finanzieren mit diesen Jobs beispielsweise ihr Studium, befinden sich also nicht dauerhaft in einer Niedriglohnfalle.

"Wenn der Mindestlohn steigt, müssten auch die Tariflöhne steigen, damit das Lohnabstandsgebot gewahrt bleibt. Es droht ein Kaminzugeffekt."

Karl-Sebastian Schulte

Eine ausgebildete Fachkraft im Friseurhandwerk verdient in Hessen aktuell 11,69 Euro pro Stunde – nach Tarif. Kommt ein gesetzlicher Mindestlohn von zwölf Euro, müsste schon eine ungelernte Kraft so viel Lohn erhalten. Welche Folgen hätte das? 

Ein Sprung auf zwölf Euro Mindestlohn würde massiv in das gesamte Tarif- und Lohngefüge eingreifen. Ein Geselle wird zurecht anders bezahlt als eine ungelernte Hilfskraft. Wenn der Mindestlohn steigt, müssten auch die Tariflöhne steigen, damit das Lohnabstandsgebot gewahrt bleibt. Es droht ein Kaminzugeffekt, der noch einmal deutlichen Druck nach oben gibt – von Preiserhöhungen bis hin zur Inflationsgefahr und allem, was sich damit entwickelt. Auch in den Belegschaften droht Unfrieden. Das Lohnniveau für Mindestlohnempfänger soll auf einen Schlag um 25 bzw. 15 Prozent angehoben werden. In den darüberliegenden Lohngruppen wird eine gleichwertige Steigerung kaum möglich sein.

Wie werden die Betriebe auf die gestiegenen Lohnkosten reagieren?

Es gibt vielfältige Anpassungsreaktionen. Je nach Bereich werden Preise erhöht, Arbeitszeiten verringert oder Arbeit wandert ab. Teils werden die Betriebe auch weniger Gewinne erzielen und weniger investieren können. Das ist durchaus problematisch angesichts der Herausforderungen, die uns mit Klimawandel und digitaler Transformation bevorstehen. Wir sehen aber auch, dass sich in einigen Dienstleistungsbereichen – getrieben durch digitale Plattformen – Geschäftsmodelle entwickeln, die bewusst auf Solo-Selbstständigkeit setzen, etwa bei Lieferdiensten. Da gelten kein gesetzlicher Mindestlohn und kein Arbeitsschutz. Wenn ein Effekt ist, dass der Bereich der Geringqualifizierten nur noch aus Solo-Selbstständigen besteht, hat man mit Zitronen gehandelt.

Der ZDH spricht sich für eine Anhebung der Minijob-Grenze auf 600 Euro aus. SPD, Grüne und FDP wollen die Minijob-Grenze auf 520 Euro erhöhen. Durch einen Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro würde der Effekt jedoch vollständig verpuffen. Wäre es sinnvoll, die Minijob-Grenze künftig an den Mindestlohn zu koppeln?

Klares ja. Wir haben uns immer dafür ausgesprochen, die Minijob-Grenze zu dynamisieren. Es ist wichtig, dass dieses Instrument – so wie es ist – erhalten bleibt und nicht durch die Hintertür eingeschränkt wird. Minijobber profitieren bei einer Mindestlohnerhöhung nicht von mehr Geld. Tarifsteigerungen bleiben ihnen vorenthalten, stattdessen haben sie mehr Freizeit. 2015 durfte ein Minijobber noch 53 Stunden im Monat beschäftigt werden, wenn im kommenden Jahr der Mindestlohn auf 10,45 Euro steigt, wären wir bei 43 Stunden. Was jetzt im Sondierungspapier steht, ist ein typisch politischer Kompromiss, der nicht die gewünschte Entlastung bringt.