Bürokratie im Handwerksalltag Orthopädietechniker: Zerrieben zwischen 1.000 Verträgen

Bevor Aurelia Schnitzlein-Funk einen Patienten versorgen darf, muss sie fingerdicke Verträge studieren und seitenlange Formulare ausfüllen. Wie die Gesundheitspolitik das Orthopädietechnikerhandwerk zermürbt.

Orthopädietechnikmeisterin Aurelia Schnitzlein-Funk arbeitet an einem Probeschaft für eine Beinprothese
Aurelia Schnitzlein-Funk erstellt einen Probeschaft für eine Beinprothese. Damit den Patienten am Ende nichts drückt, muss sie so nah wie möglich an die Anatomie des Menschen herankommen - © .JAP-Fotografie

Ein Tiger starrt vom Schaft der Prothese herab. Aurelia Schnitzlein-Funk hat ihrem Meisterstück ein markantes Gesicht gegeben. "Ich bin ein großer Freund davon, statt hautfarbenen Prothesen bunte und kreative Designs anzuwenden", sagt die Orthopädietechnikmeisterin und zeigt, was hinter dem Tigerkopf steckt. "Das ist das Handwerk an unserer Arbeit!" Nichts dürfe hier den Patienten drücken, das Passstück müsse die Körperlast optimal abfangen.

In unzähligen Arbeitsgängen wird zunächst eine Probeprothese und erst dann die richtige Prothese gefertigt. "Allein dafür gibt es oft zwölf oder mehr Anprobetermine mit dem Patienten" beschreibt die 32-Jährige, die seit zwei Jahren das von ihren Eltern gegründete Sanitätshaus in Illertissen führt.

Dokumentieren, protokollieren, dann erst arbeiten

Für jeden Anprobetermin muss der Betrieb ein Anprobeprotokoll anfertigen, es vom Patienten unterschreiben lassen und es dann bei der Kasse einreichen – auch wenn die Anzahl der Termine bei der Bezahlung nicht berücksichtigt wird.

Anders als andere Unternehmer bekommen Gesundheitshandwerker wie Orthopädietechniker oder Hörakustiker ihr Geld meist nicht direkt vom Kunden, sondern von dessen Krankenkasse. 96 gesetzliche Krankenkassen gibt es derzeit in Deutschland und über 1.000 Verträge zur Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln. Jeder Vertrag umfasst im Schnitt 100 bis 150 Seiten.

Bürokratiewahnsinn für Orthopädietechniker

In Schnitzlein-Funks Arbeitsalltag bedeutet das: Bevor ein Techniker mit der Arbeit loslegen darf, muss er anhand dieser Verträge klären, welche Leistung die Kasse des betroffenen Patienten bei dessen Krankheitsbild übernimmt und einen Kostenvoranschlag einreichen. "Früher haben unsere Techniker ihren Job gemacht und waren glücklich. Heute fragen sie sich, woran sie denn noch alles denken müssen", beschreibt Schnitzlein-Funk den Frust in der Werkstatt.

Was die Kasse übernimmt, regelt § 12 Sozialgesetzbuch V. Die Leistungen müssen demnach "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" sein. "Aber was ist heute ausreichend?", fragt Michael Schäfer, stellvertretender Obermeister der Landesinnung Bayern. Die Bandbreite bei Prothesen reiche vom hölzernen Bein bis hin zur High-Tech-Prothese für 50.000 Euro. "Die Technologien schreiten fort, aber die finanziellen Töpfe stagnieren", beobachtet der Obermeister.

Prothesenschaft mit Tigerkopf
Markanter Prothesenschaft: Statt Hautfarben ein Tigerkopf. - © JAP-Fotografie

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen schreibt zwar laufend das Hilfsmittelverzeichnis fort; darin steht im Detail, welche Hilfsmittel Kassenleistung sind. "Doch das ist oft medizinisch, handwerklich und logisch fehlerhaft. Wir haben aber nur ein Anhörungsrecht, kein Widerspruchsrecht", bemängelt Schäfer.

Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde zum Bürokratiemonster

Bis zur Gesundheitsreform 2007 war das Leben für Orthopädietechniker leichter. Damals gab es deutschlandweit rund 25 Verträge mit Krankenkassen. "Als meine Eltern 1983 das Unternehmen gegründet haben, konnte jeder alles machen: Verwaltung, Rezeptabwicklung, Ladenverkauf und Werkstatt", beschreibt Schnitzlein-Funk. Dann kam das "Wettbewerbsstärkungsgesetz" und die Zahl der Verträge stieg auf das vierzigfache an, mit entsprechenden Folgen für die Verwaltung.

Heute investieren Orthopädietechniker laut einer Branchenumfrage ein Drittel ihrer Arbeitszeit in Bürokratie- und Dokumentationspflichten. Bei Schnitzleins heißt das: Sechs der 20 Beschäftigten kümmern sich fast ausschließlich um die Verwaltungsarbeit für die Krankenkassen und um die Dokumentationspflichten, die ihnen die europäische Medizinprodukteverordnung auferlegt.

Orthopädietechniker in schlechter wirtschaftlicher Lage

Grafik wirtschaftliche Lage Orthopädietechnik
Zwei Drittel der Betriebe schätzen ihre wirtschaftliche Lage als schlecht ein. - © Quelle: Wir versorgen Deutschland, Grafik: DHZ

60 Prozent der Betriebe bewerten aktuell ihre wirtschaftliche Lage als schlecht. Das Beispiel Rollator zeigt warum. Wenn ein Sanitätshaus einen Patienten mit einem Gehwagen versorgt, erhält es von der Kasse 70 bis 90 Euro, verteilt auf fünf Jahre Mietzeit. Dafür muss es den Rollator anschaffen, ihn beim Kunden anliefern, auftretende Schäden während dieser fünf Jahre reparieren und ihn abschließend wieder abholen und reinigen. "Da sind die Ausgaben höher als die Einnahmen", stellt Schnitzlein-Funk klar. Sie mache es trotzdem, um die Kunden zu halten.

Mit der Inflation hat sich die Lage noch einmal verschärft. Die Einkaufspreise für zum Beispiel Rollatoren, Toilettenstühle oder Rollstühle haben sich verdoppelt. Trotzdem bekommt gut die Hälfte der Hilfsmittelbranche von den Kassen bisher keinen einzigen Cent zusätzlich. Bis ein neuer Vertrag mit einer Kasse ausgehandelt ist, dauert es fünf Monate bis zu einem Jahr. "Wir haben seit einem Jahr Inflation, aber jetzt erst an die Situation angepasste Verträge mit den großen Krankenkassen in Deutschland realisieren können!", nennt Schäfer ein Beispiel.

Fachkräftemangel auch durch Bürokratie

Diese finanzielle Abhängigkeit von den Kassen verschärfe die ohnehin angespannte Fachkräftesituation im Gewerk. "Mitarbeiter wechseln in berufsfremde Branchen, weil wir nicht in der Lage sind, höhere Gehälter zu bezahlen", so Schäfer. Dabei sei der Beruf wunderschön, betont Schnitzlein-Funk und ergänzt: "Orthopädietechnik wird gebraucht, denn die Menschen werden älter. Aber um unsere gewohnte Qualität halten zu können und um unseren Mitarbeitern gerecht zu werden, brauchen wir einen deutlich höheren Stundenverrechnungssatz!"

Kampf gegen Bürokratie im Orthopädietechnikhandwerk

In Deutschland gibt es rund 1.500 Hauptbetriebe in der Orthopädietechnik mit insgesamt 4.800 Betrieben. 4.500 davon und damit 94 Prozent sind im Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) organisiert. Um die beschriebenen Missstände zu beheben, hat die Bundesinnung gemeinsam mit dem Bündnis "Wir versorgen Deutschland" (WvD) Reformvorschläge vorgelegt.
Durch Leitverträge soll die Zahl der über 1.000 Einzelverträge reduziert werden. So würden Bürokratie abgebaut und transparente Standards eingeführt.
Mit dem Nachweis ihrer Fachkunde und Eignung sollen Sanitätshäuser zulasten der Krankenkassen abrechnen dürfen. So hätte jeder Versicherte die freie Wahl und könnte im Sanitätshaus seines Vertrauens versorgt werden.
Was eine "ausreichende und zweckmäßige" Versorgung ist, soll stärker durch die medizinischen Fachgesellschaften und nicht wie bisher durch die Krankenkassen festgelegt werden. www.wirversorgendeutschland.de