Beinamputierte Menschen leiden oft unter Phantomschmerzen und fühlen sich beim Gehen unsicher. Ein österreichischer Start-Up hat eine "fühlende Beinprothese" entwickelt, mit der die Betroffenen ein besseres Gefühl für den Untergrund gewinnen. Vor allem aber haben sie weniger Schmerzen.

Walter Mathes hat keinen rechten Unterschenkel mehr. Im Mutterleib war sein Bein abgeschnürt worden, schon mit einem Jahr bekam er seine erste Prothese – "ein Seeräuberbein“ nennt er es. Er konnte nie ein Gespür für den rechten Unterschenkel entwickeln: "Ich habe in meinem Gehirn keinen Platzhalter dafür“, sagt er. Er habe also nicht erwartet, plötzlich seine Fußsohle zu spüren – und trotzdem passierten interessante Dinge, so der 60-Jährige.
Hilfe bei Phantomschmerzen
Mathes war einer der ersten Probanden, die die fühlende Beinprothese von Saphenus trugen. Den österreichischen Start-Up gibt es seit 2016. "Wir haben unsere Prothese in erster Linie entwickelt, weil wir Patienten helfen wollten, die starke Phantomschmerzen haben“, erklärt Aaron Pitschl, Orthopädietechniker und einer der Geschäftsführer von Saphenus.
"Der Körper sucht nach einer Amputation oft nach einem Signal aus der Peripherie, das er aber nicht mehr kriegen kann, weil der Körperteil nicht mehr da ist. Damit findet sich das Gehirn nicht ab“, beschreibt Pitschl, was bei Phantomschmerzen passiert. Sehr viele Menschen mit einer Amputation kennen seiner Erfahrung nach dieses Phänomen. Bei manchen trete es nur ein oder zweimal im Jahr als leichte Störung auf, andere müssten mehrmals am Tag starke Schmerzmittel nehmen.
Fühlende Beinprothese meldet an Gehirn
Die "fühlende Beinprothese“ soll den Nervenenden wieder Informationen zuspielen, damit das Gehirn aufhört, nach dem Körperteil zu suchen und Schmerzen zu empfinden. Hierzu stülpt der Patient über seine Fußprothese eine Socke mit vier Sensoren. Diese sind per Funk verbunden mit einem Empfängerteil, den "vibrotaktilen Aktoren“, die in einer Manschette am Beinstumpf befestigt werden. Sie vibrieren, sobald ein Signal vom Fuß kommt.
Es ist, als würde ein Smartphone in der Hosentasche summen“, beschreibt Mathes seine Eindrücke. In seinem Gehirn kommt das Gefühl der Fußbewegung an, auch wenn die Information oben am Bein übertragen wird. Obwohl Mathes’ Gehirn nie gelernt hat, den rechten Fuß wahrzunehmen, funktioniert das Prinzip: "Selbst wenn ich das Gerät abschalte, spüre ich noch etwa eine Stunde lang die Vibrationen. Da ist in meinem Kopf schon ein Areal entstanden.“
Operation bei Neuromschmerzen
Die Anpassung des Systems war für ihn relativ unaufwändig. Schwieriger ist es für Menschen mit Neuromschmerzen. "Wenn der Nerv durch die Amputation abgetrennt wird, spleißt er sich an seinem Ende oft auf. Die einzelnen Nervenenden versuchen dann zu wachsen und bilden Verästelungen, die schmerzen, sobald sie nicht weiterkommen“, erklärt Pitschl. Spezialisierte Kliniken für bionische Prothetik können diese Nervenenden operativ zusammenfassen und mit einem Beinnerv vernähen, so dass sich keine neuen Neurome mehr bilden. Saphenus arbeitet bisher mit Kliniken in Brixen, Innsbruck und Murnau zusammen. Der Rest bleibt gleich: Die vibrotaktilen Aktoren werden von außen am Beinnerv platziert und übermitteln die Bewegungen des Fußes.
Auch wenn die Lösung in erster Linie für Schmerzpatienten gedacht war, können auch andere Prothesenträger davon profitieren. Durch die Rückmeldung der Fußsensoren gewinnen sie ein besseres Gefühl für den Untergrund, auf dem sie sich bewegen. Das verleihe mehr Sicherheit beim Gehen.
Mehr Sicherheit beim Gehen
8.000 bis 10.000 Euro wird das Saphenus-System kosten. Es soll mit jeder Prothese kombinierbar sein. "Uns war wichtig, möglichst wenig in die bestehende prothetische Versorgung einzugreifen“, sagt Pitschl. Die Patienten seien nach einer Amputation traumatisiert. Sie sollen mit ihrem vertrauten Orthopädietechniker weiterarbeiten können.
Bis zur Serienreife steht dem Start-Up noch viel Arbeit bevor. Ziel ist, dass sich Orthopädietechniker schulen und zertifizieren lassen können, um das System bei sich vor Ort anbieten zu können. Außerdem läuft derzeit eine Studie, so Pitschl: "Wir wollen beweisen, dass Phantomschmerzen auch ohne vorherige OP zurückgehen, wenn wir die Nerven am Oberschenkel stimulieren.“