Psychische Folgen der Dauerkrisen Krisenmüde: Von der Arbeit in die Depression

Chefs haben immer ein hohes Stresslevel. Die Dauerkrisen der vergangenen Jahre haben den Druck ­zusätzlich erhöht. Manche Menschen reagieren darauf mit Burn out, Burn on oder Depression.

Bäckermeister Andreas Rother vor den leeren Regalen seiner Bäckerei.
Die Regale bleiben leer. Andreas Rother hat Ende November seine Bäckerei geschlossen. Der Druck wurde zu hoch. - © Rudi Merkl

Ein Grabstein blockiert den Eingang zur Bäckerei Fuchs. "Was nun?", steht darauf, und "Kein Brot ist hart." Seit Dezember hat Winterhausen keine Bäckerei mehr, die Bürger trauern. Bildhauer Thomas Reuter hat dies in Stein gemeißelt.

Erst vor fünf Jahren hatte Andreas Rother die kleine Bäckerei in der Marktgemeinde bei Würzburg gekauft und sich damit einen Traum erfüllt. "Ich wollte hier einige Jahre Geld verdienen und dann im Ort eine modernere Backstube bauen", erinnert sich der 47-Jährige an seine optimistischen Pläne.

Doch dann kamen die beiden Coronajahre: 60.000 Euro weniger Umsatz, bei gleichbleibenden Ausgaben. Es folgte der Ukrainekrieg mit Energiekrise und enormen Kostensteigerungen. Rother zahlt jetzt für Butter doppelt so viel, sein Gasabschlag beträgt 1.200 Euro statt 750.

Bäcker wegen Inflation zu teuer für viele

Die Preiserhöhnungen eins zu eins an seine Kunden weiterzugeben, hätte Rother nicht gewagt. Ohnehin könnten es sich in diesem ländlichen Bereich viele nicht mehr leisten, beim Bäcker einzukaufen. Der Druck auf Rother wuchs: "Du liegst nachts im Bett und kannst vor lauter Kummer und Sorgen nicht mehr schlafen!" Als sich dann auch noch der Strompreis verdoppelte, konnte der Bäckermeister nicht mehr. "Finanziell wäre es vielleicht irgendwie gegangen, aber gesundheitlich nicht. Ich musste etwas ändern, bevor ich von der Brücke hüpfe."

Der Druck, unter dem Selbstständige stehen, ist auch in normalen Zeiten hoch. Die Aneinanderreihung von Krisen in den vergangenen Jahren bedeutet eine enorme Zusatzbelastung: "Das ist ein Dauer-Ausnahmezustand, der zum chronischen Stress noch hinzu kommt", warnt Bert te Wildt. Der Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen beobachtet bei seinen Patienten, dass viele den Dauerbelastungen nicht mehr standhalten.

Burn on statt Burn out, eine chronische statt einer akuten Depression

Andreas Rother vor dem Eingang seiner Bäckerei mit einem Grabstein.
Ein Bildhauer aus Winterhausen hat einen Grabstein gestaltet, als er erfuhr, dass Andreas Rother aufgibt. "Was nun?" steht darauf, und "Kein Brot ist hart." - © Rudi Merkl

Neben dem Krankheitsbild des "Burn out", also einer akuten Erschöpfungsdepression, beobachte er vermehrt ein weiteres Phänomen. Te Wildt und sein Kollege Timo Schiele nennen es "Burn on". Bei dieser chronischen Erschöpfungsdepression arbeiten die Betroffenen oft jahrelang an ihrer Belastungsgrenze. Obwohl sie sich tief erschöpft fühlen, reißen sie sich immer wieder zusammen, um durchzuhalten. "Gelebt wird später, erst einmal haben wir zu funktionieren", beschreibt te Wildt, wie die Erkrankten denken.

Auch wenn die Burn on-Betroffenen nicht so offensichtlich zusammenbrechen wie Burn out-Patienten, sei die Krankheit gefährlich. Permanente Anspannung führe zu Schlaflosigkeit, Gereiztheit, innerer Erregung, häufig zu Muskel-, Rücken- oder Kopfschmerzen, aber auch zu erhöhtem Blutdruck mit den möglichen Folgen von Herz- oder Hirninfarkt.

Gerade Selbstständige seien Burn on-gefährdet, weil sie zusätzlich zu den äußeren Zwängen ein hohes Verantwortungsbewusstsein für das Unternehmen und die Mitarbeiter antreibe, beobachtet te Wildt. Auch Rother belastete der Gedanke an seine zwei Verkäuferinnen und seinen Gesellen besonders stark: "Es war einfach grausam, ihnen zu kündigen", seufzt er. Dass er den Schritt dennoch wagte, liegt auch an seiner Freundin. Sie warnte ihn, dass er etwas ändern müsse, wenn er nicht kaputt gehen wolle.

Von der Arbeit zur Depression

Oft erkennen Außenstehende besser, wie schlecht es dem Betroffenen geht als er selbst. Bert te Wildt zieht hier Parallelen zu Suchtkranken. "Wer nicht mehr abschalten kann und permanent an Arbeit denkt, der zeigt ein arbeitssüchtiges Verhalten, das auf Dauer in einen Burn out oder einen Burn on führen kann", erklärt der Arzt.

Was der Antreiber für das Übermaß an Arbeit sei, ob der Wunsch nach Anerkennung und Erfolg, wirtschaftliche Sorgen oder Versagens­ängste, spiele dabei keine Rolle. Viele seiner Patienten säßen vor ihm und sagten zunächst, dass sie ihre Arbeit liebten. Tatsächlich stelle sich dann oft heraus, dass die Betroffenen innerlich überhaupt keine Freude mehr empfänden, weder an ihrer Arbeit noch an ihrem Privatleben, sie funktionierten nur noch.

Bert te Wildt
Bert te Wildt hat mit seinem Kollegen Timo Schiele den Burn on beschrieben: "Viele Menschen sagen: Endlich verstehe ich, was mit mir los ist. Wir haben mit der Beschreibung des Burn-on einen Nerv getroffen.“ - © privat

Wer sich in dieser Beschreibung wiedererkennt, kann in einem ersten Schritt mit sich selbst Verabredungen treffen. "Es hilft, sich Zeitinseln zu schaffen, in denen Arbeit tabu ist", so te Wildt. In dieser Zeit müsse die Arbeit ruhen und es brauche einen Ausgleich, der keine Ähnlichkeit zur Arbeit hat. Private Höchstleistungen sind hier also nicht gefragt, sondern Dinge, die Körper, Geist und Seele gut tun. Sowohl kurze Auszeiten während der Arbeit als auch längere, ganz arbeitsfreie Zeiten und Situationen seien wichtig.

Psychotherapeutische Hilfe bei Burn on und Burn out

"Wenn man allerdings erst einmal die Grenze zum Burn out oder Burn on überschritten hat, ist es schwierig, ohne Hilfe herauszukommen", warnt te Wildt. Wer Unterstützung von außen brauche, aber keinen ambulanten Termin bei einem Psychotherapeuten bekomme, könne sich zunächst an einen Coach wenden. "Viele Coaches sind gleichzeitig als Psychotherapeuten akkreditiert und können erkennen, ob ein paar Coachingstunden genügen oder ob das Verhalten bereits im krankhaften Bereich ist", so te Wildt. Im schlimmsten Fall hilft nur eine stationäre Behandlung.

Andreas Rother hat es nicht so weit kommen lassen. Am 30. November hat er seine Bäckerei geschlossen ohne zu wissen, wie es weitergeht. Der Zuspruch aus dem Ort ist enorm, die Bürger haben für ihn ein Benefizkonzert veranstaltet und Geld gesammelt. Es gibt auch Überlegungen, die Bäckerei als Genossenschaft weiterzuführen. Doch jetzt lasse er erst einmal die Adventszeit und Weihnachten vergehen. "Seit ich die Entscheidung getroffen habe, geht es mir besser. Ich werde ruhiger. Endlich lässt der Druck nach."

>>> Hintergrundinformationen zur Krankheit Depression sowie Links zu Anlaufstellen und Hilfeeinrichtungen weiter unten >>>

Literaturtipps

Buchcover Burn on

Immer kurz vorm Burn out

Es gibt Menschen, die arbeiten bis zum Burn-out. Andere beuten sich ebenso erbarmungslos aus, manövrieren aber immer knapp am Kollaps vorbei. Burn-on nennen die Autoren Bert te Wildt und Timo Schiele diese chronische Erschöpfung, die sie an ihren Patienten einer psychosomatischen Klinik immer häufiger beobachten. Viele Leser werden sich bei der anschaulichen Lektüre selbst wiedererkennen.
Burn on. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft. Droemer; 20 Euro;
ISBN: 978-3-426-27848-2; www.holzmann-medienshop.de/dhz

Den Kompass einnorden

Um gut durch Krisen zu kommen, braucht es zweierlei: Erstens Sachkompetenz, um unmittelbar Maßnahmen zu ergreifen und zweitens eine Grundorientierung darüber, was wirklich wichtig ist im Leben. Philosoph und Jesuit Michael Bordt nordet in seinem neu aufgelegten Büchlein den inneren Kompass wieder ein – unaufgeregt, klar, überzeugend.
Was in Krisen zählt. Wie Leben gelingen kann. ZS-Verlag; 9,99 Euro;
ISBN 978-3-96584-178-9; www.holzmann-medienshop.de/dhz

Den Kopf frei bekommen

Chronischer Stress, Krisen, aber auch der private Umgang mit digitalen Medien verstopfen vielen Menschen regelrecht den Kopf. Neurologe und Psychiater Volker Busch ­erklärt, wie die persönliche Lebens- und Arbeitsweise das Gehirn belastet und was jeder selbst tun kann und muss, damit er auch in turbulenten Zeiten den Kopf wieder frei bekommt.
Kopf frei! Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität ­gewinnen. Droemer; 18 Euro;
ISBN: 978-342627-865-9; www.holzmann-medienshop.de/dhz

Inspiration durch Sprache

Sprache lenkt das Denken. Mit dieser Überzeugung nähert sich Ulrich Grober aus sprachlicher Sicht der Frage, wie ein gutes Leben für alle aussehen könnte. Er seziert Wörter nach ihrer etymologischen Herkunft, vernetzt sie mit Ereignissen aus jüngster und weit entfernter Geschichte und entwickelt in einem poetischen Grundton kritische Gedanken. Die so entstehende "Sprache der ­Zuversicht" ist seine Antwort auf aktuelle Krisen.
Die Sprache der Zuversicht. Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt. Oekom; 24 Euro; ISBN: 978-3-96238-368-8; www.holzmann-medienshop.de/dhz

Lernen von Kapitänen

Die Welt ist in unruhiges Fahrwasser geraten. Was liegt da näher, als krisenerprobte Kapitäne nach ihren Erfahrungen zu befragen? Stefan Kruecken erzählt von Stürmen, Mut und klaren Entscheidungen in höchster Not. Ein Ratgeber der anderen Art für Menschen, die das Meer lieben.
Das muss das Boot abkönnen. Durch Sturm und Krise. Ankerherz Verlag; 29,90 Euro;
ISBN: 978-3-945877-53-1; www.holzmann-medienshop.de/dhz

Krankschreibungen wegen Depressionen steigen seit Jahren

Seit Jahren steigt die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen. Am häufigsten lautet die Diagnose Depression. Im Schnitt leidet etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann im Laufe des Lebens daran. "Die Depression ist die Mutter aller psychischen Erkrankungen, denn fast all diese Erkrankungen gehen mit einer Depression einher", erklärt Bert te Wildt.

Es sei umstritten, ob die Zunahme an Diagnosen lediglich daran liege, dass heutzutage offener mit psychischen Problemen umgegangen werde, oder ob tatsächlich mehr Menschen erkranken. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und weiterer Krisen sind nicht eindeutig. Tatsächlich liegt die Zahl der Anfragen nach Psychotherapie bis heute um 40 Prozent höher als vor Corona, zeigen die Zahlen der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung.

Anzeichen und Symptome einer Depression

Dass Krisen müde und niedergeschlagen machen, ist normal. Kritisch wird es aber, wenn die Energie- und Freudlosigkeit zum Dauerzustand wird. Dann könnte es sich um eine Depression im medizinischen Sinne handeln. Sie geht auch mit Störungen im Gehirn und in Körperfunktionen einher. Zu den Symptomen der Depression gehören:

  • psychomotorische Unruhe
  • psychomotorische Verlangsamung
  • geringerer Appetit
  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • Antriebsmangel
  • erhöhte Ermüdbarkeit
  • Schlafstörungen
  • Schuldgefühle
  • vermindertes Selbstwertgefühl
  • Hoffnungslosigkeit
  • Suizidgedanken

Ursachen und Behandlung einer Depression

Depressionen gehen meist nicht auf eine einzige Ursache oder einen einzigen Auslöser zurück. Einfluss haben einerseits die persönliche Veranlagung, andererseits aktuelle Auslöser, es gibt also eine psychosoziale und eine neurobiologische Seite der Krankheit. Seelische und körperliche Faktoren lassen sich nicht klar trennen. Die Deutsche Depressionshilfe betont, dass die Depression eine eigenständige Erkrankung ist, die jeden treffen kann, der eine entsprechende Veranlagung hat. Sie nur auf negative Lebensbedingungen zurückzuführen oder als Folge zu hoher Arbeitsbelastung, sei falsch.

Im Schnitt dauert es 20 Monate, bis sich an Depressionen Erkrankte Hilfe suchen. Gründe für den Zeitverzug sind die für die Krankheit typische Antriebslosigkeit, Schamgefühle, aber auch das überlastete Gesundheitssystem, zeigen Untersuchungen der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.

Bis Betroffene beim Facharzt behandelt werden, dauert es im Schnitt acht Wochen. Auf einen Platz beim Psychotherapeuten warten sie durchschnittlich zehn Wochen und müssen dafür im Schnitt fünf verschiedene Therapeuten kontaktieren.

Hilfe holen bei Depressionen

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen sollte sich jeder Hilfe suchen, der seit mehr als zwei Wochen unter fünf oder mehr der genannten Symptomen leidet. Der erste Weg kann zum Haus- oder Facharzt führen. Der klärt ab, ob eine Depression vorliegt und welche Art der Behandlung sinnvoll ist.

Über 60 Prozent der Erkrankten bekommen Medikamente, knapp die Hälfte erhält Psychotherapie. Weitere Möglichkeiten sind Licht- und Wach­therapie, Reha-Sport und auch Selbsthilfeprogramme. Bei der Suche nach einem Therapeuten können die Termin-Servicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung helfen (deutschlandweit Tel. 116117). Bert te Wildt empfiehlt außerdem, sich nach einem Coach zu erkundigen, der gleichzeitig als Psychotherapeut akkreditiert ist.

Zusätzlich gibt es anerkannte Selbsthilfeprogramme für Erkrankte. Das kostenfreie Online-Programm "I fight depression" kann Menschen mit leichteren Depressionsformen unterstützen. Es ist in über 20 Sprachen online. Auch der Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen hilft vielen:

Schwere Depressionen und Suizidgedanken sind ein Notfall

Die Telefonseelsorge ist 24 Stunden am Tag unter den Nummern 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 erreichbar und berät anonym und kostenlos.

Bei schweren Depressionen, in Akutsituationen und vor allem bei Suizidgedanken sollten Erkrankte oder deren Umfeld sofort die Ambulanz einer psychiatrischen Klinik oder den Notarzt unter der Rufnummer 112 kontaktieren.