Keine Zeit mehr, keine Freude mehr, ständig erschöpft: Immer mehr Handwerker leiden unter dem enormen Druck in ihrer Branche, nur wenige reden offen darüber. Auch wenn die offizielle Zahl der psychischen Erkrankungen im Handwerk geringer ist als im Rest der Bevölkerung: Das Burn-out-Syndrom bedroht immer mehr Handwerker. Das zeigen die Erfahrungen eines Fliesenlegers.
Barbara Oberst

Mit 29 Jahren war Jan Kempf am Ende. Sieben Jahre zuvor hatte sich der Fliesenleger selbstständig gemacht, erst als Solounternehmer, dann mit immer mehr Beschäftigten, zuletzt als Chef von 21 Mitarbeitern in zwei gut laufenden Unternehmen im mittelfränkischen Dietersheim.
Wenn Freunde ihn warnten, er solle einen Gang zurückschalten, lachte er: "Ich dachte: Ich bin doch jung, 20 Stunden am Tag zu arbeiten macht mir Spaß!“ Aufgaben abzugeben, auszulagern oder schlicht abzulehnen, kam für ihn nicht in Frage. Im Nachhinein erkennt er: "Das geht vielen Handwerkern so: Es gibt überall Schulungen zur Selbstentwicklung, aber vor lauter Arbeit investieren die Chefs zu wenig in sich selbst.“
Erstes Warnzeichen für einen Burn-out: Keine Zeit
Die ersten Warnzeichen seines Burn-outs übersah Kempf: keine Zeit mehr für Freunde oder Sport, kein Lachen mehr.
Dann kamen Kopfschmerzen , Verdacht auf Hirntumor, unerklärliche Allergien, Schlafstörungen, Verdacht auf Herzinfarkt. Und schließlich der Zusammenbruch. "Ich habe nur noch durchgeweint. Acht Wochen lang lag ich daheim auf dem Sofa und traute mich nicht einmal mehr aufzustehen.“ Sein Hausarzt überwies ihn schließlich in eine Depressionsklinik für weitere zehn Wochen.
"Wieder zu Hause ging der Horror erst los“, erinnert sich Kempf. Am ersten Tag in der Firma zeigten sich schon nach wenigen Minuten die Symptome wieder. Fünfminutenweise eroberte er sich den Weg zurück ins Arbeitsleben. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er 40 Stunden in der Woche durchhielt – immer noch ein Bruchteil seines früheren Pensums. "Ohne meine Frau, die hier zwei Jahre lang den Betrieb geschmissen hat, und ohne meinen Meister und die Mitarbeiter hätte ich alles verloren: den Betrieb, unser Privathaus, die ganze Existenz“, ist sich Kempf sicher.
Burn-out bedroht Existenz
Die Krankheit zwang ihn, seine bisherige Arbeitsweise zu überdenken; nicht nur, um sich selbst zu schützen, auch um der Mitarbeiter willen. "Im Betrieb sprachen alle nur noch von Stress, Spaß an der Arbeit hatte keiner mehr“, gesteht Kempf.
Maren Ulbrich kennt dieses Phänomen. Vor einem Jahr gründete die Betriebswirtin die externe Personalabteilung "Handwerksmensch“. Sie berät Handwerker in allen Personalfragen, analysiert, wie der Chef und sein Team arbeiten, baut neue Strukturen auf. "Die meisten Probleme gibt es wegen des enormen Stresspegels. Die Betriebe sind gewachsen, nicht aber die Strukturen, mit denen sie arbeiten“, erklärt sie. Chef und Mitarbeiter seien überfordert. Das zeige sich an Stimmung, Krankenstand und hoher Fluktuation.
Nachrichtenflut gestoppt, konsequentes Zeitmanagement
Kempf ließ seinen Betrieb von Ulbrich unter die Lupe nehmen und hat einiges geändert. Heute ist er morgens nicht mehr der Erste in der Firma, mittags macht er immer eine Stunde Pause, statt im Auto telefonierend eine Leberkäsesemmel herunterzuschlingen. Hat er Abendtermine, nimmt er dafür den Nachmittag frei. An jedem Arbeitstag hat er eine Stunde im Kalender geblockt, um Dinge in Ruhe abzuarbeiten.
Mit am wichtigsten: Er hat die Nachrichtenflut gestoppt. Seine neue Handynummer haben nur enge Freunde, die Familie und die Mitarbeiter, nicht aber die Kunden oder Geschäftspartner; die automatische Weiterleitung von Firmenmails aufs Handy hat er abgestellt. "Früher war ich an sieben Tagen die Woche von früh bis spät erreichbar. Heute entscheide ich bewusst, wann ich reagiere.“
Kempf verlässt sich jetzt viel stärker auf seine Leute: Buchhaltung und Finanzen managt eine Mitarbeiterin, die Fliesenausstellung und Lagerbestellungen ein anderer. Die Baustellen teilen seine Meister selbstständig ein und wickeln sie ab. Kempf betreut nur noch ausgewählte Kunden, in erster Linie repräsentiert er und beschafft neue Aufträge.
Seine anfängliche Sorge, die Mitarbeiter könnten Probleme mit diesem "neuen“ Chef haben, war unbegründet. Das Team zieht mit, die Stimmung im Betrieb ist endlich wieder gut, freundschaftlich. "Früher habe ich mich als die Firma gesehen. Heute sehe ich mich nur noch als einen Teil von ihr. Ich habe gelernt, Verantwortung abzugeben. “
Beratung für Betroffene
Durch seinen Burn-out hat Fliesenleger Jan Kempf viele Unternehmer kennengelernt, denen es ähnlich geht. "Wir müssen die Leute wachrütteln. Das kann jedem passieren, auch Männern am Bau, selbst wenn dort keiner darüber spricht.“
Kempf berichtet in Vorträgen über seine Erfahrungen und bietet Betroffenen zusammen mit "Handwerksmensch“ Beratungen an. "Wir wollen vorbeugend Tipps geben, wie Betroffene bessere Strukturen schaffen können, und eine Anlaufstelle bieten für Handwerker, die schon daheim liegen und nicht mehr weiterwissen.“
Infos unter www.handwerksmensch.de und www.fliesen-kempf.de.
Depressionen: Unterschätzte Krankheit
Burn-out und Depressionen sind sehr ernst zu nehmende, aber therapierbare Krankheiten. Typisch für Depressionen ist das Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit und der Eindruck, dass sich dieser Zustand nicht verbessern wird. Tatsächlich können Ärzte und Therapeuten Menschen mit Depressionen aber in den allermeisten Fällen helfen.
Prof. Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, rät Betroffenen oder deren Angehörigen, sich rasch professionelle Hilfe zu holen, wahlweise über den Hausarzt oder direkt über einen Nervenarzt oder Psychiater.
Wer akut Suizidgedanken hegt, sollte nicht zögern, sich Hilfe zu holen, entweder über den Notarzt unter Telefon 112 oder die Telefonseelsorge in Deutschland, die rund um die Uhr unter Telefon 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 erreichbar ist.
Informationen über Depressionen und was Betroffene tun können, um wieder gesund zu werden, gibt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Dieser Artikel wurde am 24. Juli 2017 aktualisiert.