"Behinderungen sind nicht immer sichtbar" ist eine zentrale Aussage der Fotoausstellung "und ich bin". Sie zeigt Menschen bei der Arbeit. Sie alle haben ihren Arbeitsplatz auf Umwegen gefunden. Einblicke in die Ausstellung und was dahintersteckt.

Julian Dreher trägt blaue Arbeitshandschuhe. In kurzen Hosen und T-Shirt steht er in einer Werkstatt. Hinter ihm hängen große Fensterrahmen. Stolz sieht der 28-Jährige aus, er fühlt sich sichtlich wohl bei seiner Arbeit. Bei Fensterbau Stocker im oberschwäbischen Uttenweiler hat er mittlerweile eine sozialversicherungspflichtige Festanstellung. Auf dem Weg dorthin haben ihn die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Integrationsfachdiensts (IFD) Biberach begleitet. Dieser Weg verlief aufgrund einer Behinderung aber nicht über Regelschule und Ausbildung. Stattdessen suchte der IFD gemeinsam mit ihm nach einer passenden Tätigkeit und überlegte, wie und mit wem er sein Ziel realisieren kann. Er durchlief verschiedene Praktika. Nach einer intensiven Vorbereitung mit Langzeitpraktikum und Jobcoaching wurde Julian Dreher in ein Arbeitsverhältnis übernommen. Seit neun Jahren ist er nun fester Teil der Belegschaft des Fensterbaubetriebs.
Ähnlich erging es Emine Beljulji. Die 30-Jährige schaut mit dunkelroter Schürze und Kochhaube bekleidet um die Ecke einer gefliesten Küchenwand. Sie grinst und lehnt sich sicher an eine große, silberne Industriespülmaschine. Ihr fester Arbeitsplatz ist heute im hauswirtschaftlichen Bereich der Jugendherberge in Biberach. Zuvor arbeitete sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Ihr Wunsch war es jedoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden und so wendete sich die WfbM an den IFD. Es folgte ein Praktikum in der Jugendherberge. Daraus ist mittlerweile eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geworden.
Fotoausstellung "und ich bin": Weg von Vorurteilen – hin zum eigenen Blick
Julian Dreher und Emine Beljulji sind nur zwei von vielen anderen jungen Menschen, denen der normale Schul- und Ausbildungsweg aufgrund einer Behinderung nicht möglich war. Dennoch arbeiten sie heute regulär angestellt auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Gemeinsam haben sie außerdem, dass Fotos von ihnen Teil der Fotoausstellung "und ich bin" sind. Sie zeigen sie so wie sie an ihrem Arbeitsplatz anzutreffen sind. Was die Fotos nicht in den Vordergrund stellen, ist ihre Behinderung.
"Es war uns wichtig, die Menschen und ihre Arbeit in den Vordergrund zu rücken und nicht ihre Behinderung", sagt Thomas Ruf, Teamleiter des IFD Biberach. Es geht um Menschen, die ihren Platz im Arbeitsleben gefunden und dabei Barrieren überwunden haben. Und geht es um einen anderen Blick auf das Thema, den der Betrachter jeweils selbst entwickeln soll. Die Bilder sprechen für sich. Lange Beschreibungen oder womöglich Erklärungen dazu gibt es absichtlich nicht. Es sind über 30 Fotos – sozusagen für über 30 Jahre Arbeit, die der IFD bis heute geleistet hat, damit Menschen mit Behinderung individuell passend am Arbeitsleben teilhaben können.
Als die Planung für das Jubiläum begann, wusste der IFD angesichts der Corona-Situation nicht, wie und ob Feierlichkeiten möglich seien. Dies traf auf die Idee zu einem Fotoprojekt, das die bisherige Arbeit des Fachdienstes dokumentieren sollte. Bei der Zusammenarbeit mit Andreas Reiner war dem IFD der regionale Bezug wichtig. Ausschlaggebend waren auch die früheren Arbeiten des Biberacher Fotografen. "Dass er sich mit sozial-kritischen Themen auseinandersetzt, fanden wir passend. Mich selbst bringen die Fotos von Andreas Reiner zum Nachdenken – das Echte, das Ungeschminkte", sagt dazu Integrationsfachberaterin Christine Böck. Überrascht und erfreut war sie davon, dass diejenigen die nun auf den vielen Porträtfotos zu sehen sind, ohne zu zögern und mit Begeisterung Teil des Fotoprojekts geworden sind.
Vorurteile und sich selbst hinterfragen

Zu sehen ist dieses ab dem 2. Juni und bis 1. Juli 2022 im Foyer des Landratsamts Biberach. Dieses ist frei und kostenlos zugänglich. "Die Ausstellung ist auch unabhängig von unserem Jubiläum sehenswert. Wir würden uns sehr freuen, wenn sie danach weiterwandert und sich jemand meldet, der einen weiteren Ausstellungsort vorschlägt", sagt Thomas Ruf. Interessierte können sich gerne bei ihm melden (Kontaktdaten siehe unten).
Andreas Reiner beschreibt den Ansatz der Ausstellung und vor allem die Idee für den Titel "und ich bin" selbst mit den Worten: "Da der Betrachter erfahrungsgemäß alles Mögliche in die Bilder und somit in die Protagonisten hineininterpretiert, wird er wahrscheinlich nie auf die Idee kommen, dass der Titel letztlich eine Frage an ihn selbst ist." Denn der Titel soll in der Tat anregen, sich selbst und auch die eigenen Vorurteile zu hinterfragen.

Noch immer sind diese verbreitet, wenn es um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben geht. "Die Leute zeigen oft ein besonders starkes Engagement bei der Arbeit und dabei sich in einem Betrieb einzubringen", berichtet Christine Böck. Dabei brauchen sie aber oft Unterstützung und bekommen diese vom IFD. Dieser ist im Auftrag des Integrationsamts beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg tätig. Träger des IFD ist der Verein bela e.V. begleiten-leben-arbeiten.
Fotoausstellung "und ich bin" soll weiter wandern
Über ganz unterschiedliche Wege finden die Menschen, die Unterstützung suchen, zum IFD. "Bei uns melden sich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen genauso wie Arbeitgeber, oft verweisen Ärzte und Klinken auf uns, die die Menschen betreut haben und auch mit den Werkstätten für Menschen mit Behinderung arbeiten wir viel zusammen", erklärt Thomas Ruf. Die Wege des Zusammentreffens seien genauso vielfältig wie die Menschen selbst. Das zeigt auch die Fotoausstellung. Und noch mehr: Denn Behinderungen sind nicht immer sichtbar.
Bei vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen treten Einschränkungen und Behinderungen erst im Laufe des Erwerbslebens auf. So auch bei Erich Kraus. Er ist heute 54 Jahre alt und leidet an einer chronischen Erkrankung. Erich Kraus hat Abitur, eine Ausbildung zum Werkzeugmacher absolviert und ein Maschinenbaustudium abgeschlossen. Er arbeitete als Konstrukteur. Doch dann wurde die Erkrankung schlimmer und schränkte ihn körperlich mehr ein. Zunehmend war er auch psychisch den beruflichen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Ein Arbeitsplatzwechsel war nötig und er kam zum Unternehmen Hertenberger Solutions. Dieses war bereit und in der Lage, den Arbeitsplatz und die Tätigkeiten an die Einschränkungen von Erich Kraus anzupassen. Der IFD begleitet Erich Kraus und auch seinen Arbeitgeber dabei im Rahmen der Arbeitsplatzsicherung. Auf seinem Foto steht Erich Kraus an einer großen Maschine in einer Werkhalle. Er legt eine Hand auf die Maschine, so als würde er ihr den Arm um die Schulter legen. Er lacht.
Infos zur Fotoausstellung "und ich bin"
Wann und wo zu sehen? Zum Start der Wanderausstellung sind die Fotos vom 2. Juni bis 1. Juli 2022 im Foyer des Landratsamts Biberach an der Riß zu sehen. Danach kann die Ausstellung auf Reisen gehen. Anfragen können an Thomas Ruf vom Integrationsfachdienst (IFD) Biberach gestellt werden. Kontaktdaten finden Sie hier.>>>
Was ist zu sehen? Über 30 Porträts von Menschen bei ihrer Arbeit fotografiert von Andreas Reiner. Alle Porträtierten haben eine Behinderung und wurden vom IFD Biberach auf dem Weg zu einer regulären Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt oder bei der Sicherung des bestehenden Arbeitsverhältnisses begleitet und werden es teilweise noch heute.
Warum zu sehen? Anlass ist das 30-jährige Bestehen des IFD Biberach, dem Auftraggeber der Ausstellung. Die Idee war es, einen bildlichen Beitrag zur Diskussionen um Vielfalt, Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben zu bieten.
Fotograf: Andreas Reiner, Sichtlichmensch