Lehrer-Verbandspräsident Josef Kraus fordert ein Ende der "Pseudoakademisierung" im deutschen Bildungssystem. Im DHZ-Interview erklärt er, warum konkretes Wissen und Können derzeit so wenig gelehrt wird und was die Politik dafür kann.
Steffen Range

DHZ: Viele Handwerksbetriebe berichten, dass es Auszubildenden an elementaren Fähigkeiten mangelt. Mit Deutsch und Mathe tun sich Lehrlinge schwer. Werden unsere Kinder dümmer?
Kraus: Nein, aber die Schulpolitik will, dass die Schulen immer weniger verlangen. Üben und Auswendiglernen, Kopfrechnen und Orthographie scheinen überholt. Man will beste Abiturnoten und hohe Abiturquoten. Der Preis dafür ist eine Absenkung der Ansprüche.
DHZ: Das Handwerk leidet darunter, dass immer mehr Schüler Abitur machen und an die Hochschulen und Universitäten drängen statt eine Lehre zu machen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Kraus: Die Bildungspolitik steht Kopf. 330 Ausbildungsordnungen stehen 18.000 Studienordnungen gegenüber. Seit drei Jahren haben wir mehr Studienanfänger als junge Leute, die eine berufliche Bildung anpacken. Diese Pseudoakademisierung wird die Wachstumsbremse der Zukunft sein.
DHZ: Welchen Anteil hat die Politik an der Misere?
Kraus: Den größten, denn sie will Quote. Aber Quote und Qualität verhalten sich reziprok. Dass aus Zeugnissen der Studierbefähigung oft bloße Atteste der Studierberechtigung geworden sind, geht auf Rechnung der Politik, die überehrgeizigen Eltern gefällig sein möchte. Leider wird dabei vergessen, dass die Länder mit den niedrigsten Studierquoten in Europa, nämlich Deutschland, Österreich und die Schweiz, zugleich die besten Wirtschaftsdaten und die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen haben.
DHZ: Welche Rolle spielen die Lehrer?
Kraus: Lehrer können sich als Einzelpersonen kaum gegen den Trend zur Kuschelpädagogik wehren. Schnell werden sie sonst zur Zielscheibe von Helikoptereltern, aus deren Sicht Lehrer oft das einzige Hindernis auf dem Weg ihres Kindes zum Abitur sind. Ein Lehrerkollegium als Ganzes könnte sich dagegen verwahren. Allerdings wohl unter Inkaufnahme geringerer Anmeldezahlen.
DHZ: Trauern Sie der Hauptschule hinterher?
Kraus: Ja, denn mit der Abschaffung der Hauptschule ist der Schüler nicht abgeschafft, für den eine moderne Hauptschulbildung die richtige wäre. Die bei Schülereltern angekommene Diskreditierung der Hauptschule als angebliche Restschule war politisch gewollt. Und das bei Schüleranteilen von bis zu 40 Prozent! Das Etikett Restschule wurde der Hauptschule übrigens auch von Parteien verpasst, die hinsichtlich ihrer Wähleranteile nichts anderes als Restparteien wären.
DHZ: Wie steht es um die Qualität der Berufsschulen?
Kraus: Manchmal bin ich erstaunt, wie diese Schulen über die Runden kommen. Meinen Respekt haben sie. Diese Schulen haben – nicht zuletzt wegen der jungen Flüchtlinge - eine Heterogenität in der Schülerschaft wie keine andere Schule zu bewältigen. Und sie leiden unter Lehrermangel, insbesondere in den WiMINT-Fächern.
DHZ: Was müsste sich im Bildungssystem ändern?
Kraus: Vieles! Wir brauchen eine Renaissance des Leistungsgedankens. Wir müssen konkretes Wissen und Können wieder schätzen lernen. Wir brauchen wieder Zeugnisse, die keine ungedeckten Schecks sind. Und unsere Schulen brauchen Zeit zur Konsolidierung. Wenn eine Reform die nächst jagt, dann haben wir Chaos.