Transgender im Handwerk Wie aus Bernhard die Schreinermeisterin Karina wurde

Schreinermeisterin Karina fühlt sich Jahrzehnte im falschen Körper gefangen. Der psychische Druck hat ihr Krebsgeschwür entfacht, sagt sie heute. Fast wäre sie daran gestorben. Nach dem Outing unterzieht sie sich nun einer Hormontherapie.

Steffen Guthardt

Endlich frei: Über Jahrzehnte wusste nur sie selbst, wer Karina wirklich ist. Seit dem Outing fühlt sie sich von Tag zu Tag stärker. - © Ulrich Steudel

Glücklich zieht sie ihren neuen Personalausweis aus der Handtasche und reicht ihn herüber. "Schau mal, hier steht es ganz offiziell. Ich bin jetzt die Karina", sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht. Die Schreinermeisterin aus Biessenhofen im Allgäu fühlt sich befreit. Endlich. Es wirkt fast so, als würde sie am liebsten die ganze Welt umarmen und ihre Geschichte erzählen.

Eine Geschichte, geprägt von einem nicht enden wollenden Kampf mit sich selbst. Ein erbittertes Duell zwischen Bernhard und Karina, das fast kein gutes Ende genommen hätte. "Ich war schon fast tot und nun fühle ich mich wie ein zweites Mal geboren. Jetzt ist alles perfekt", sagt sie und wischt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick schweift aus dem Fenster des kleinen Cafés. Zufrieden und scheinbar in sich ruhend blickt sie über die in der Sonne schimmernden Dächer der Kaufbeurer Altstadt. Doch zum Verweilen bleibt keine Zeit. Schon kommt die Kellnerin an den Tisch, um ihre Bestellung zu servieren. Einen Aperol Spritz. Wir setzen das Gespräch fort.

Psychologisches Gutachten notwendig

Karina erzählt, wie langwierig und mühsam es für Transsexuelle wie sie ist, einen Wechsel des Geschlechts anerkennen zu lassen. Erst vor ein paar Wochen hat sie vom Amtsgericht München die Bestätigung erhalten, dass sie nun offiziell Karina statt Bernhard heißt. Alle ihre Papiere müssen neu ausgestellt werden. Die Geburtsurkunde, der Führerschein oder auch der Firmeneintrag bei der Handwerkskammer.

Der Personenstandsänderung vorausgegangen ist ein langwieriges psychologisches Gutachten. Über mehrere Monate hinweg musste sich Karina von zwei vom Gericht anerkannten Psychologen unabhängig voneinander zu ihrem Wunsch der Geschlechts- und Namensänderung befragen lassen. Das ist rechtlich vorgeschrieben. Sie beurteilten, wie ernsthaft und begründet das Anliegen ist. "Da gab es zum Glück gar keine Zweifel. Für die Gutachter war sofort klar, wer ich wirklich bin", sagt Karina.

"Ich erlebe die Pubertät im Schnelldurchlauf."

Doch Karina will nicht nur auf dem Papier eine Frau sein. Alles an ihr soll weiblich wirken. Deshalb hat sie ihre Haare wachsen lassen und blondiert, die Fingernägel rot lackiert und das Gesicht geschminkt. Karina sehnt sich auch nach weiblichen Kurven. Vor kurzem hat sie deshalb mit einer Hormontherapie begonnen. Durch die Hormone verspricht sie sich ein Wachstum ihrer Brust. Auch das Gesicht soll femininer werden, das Hautbild feiner, die Haare kräftiger und die Muskeln schwächer. Damit einher geht eine psychische Wesensveränderung. Sie merke schon, wie sie sensibler, aber auch ein bisschen zickig werde. "Ich erlebe die Pubertät jetzt nochmal im Schnelldurchlauf", erzählt sie.

Karina wollte schon als Kind Schreinerin werden. - © Ulrich Steudel

Angst vor geschlechtsangleichender OP

Die Hormone wird sie ihr ganzes Leben einnehmen müssen, um die Verwandlung aufrechtzuerhalten. Eine geschlechtsangleichende Operation kommt für sie derzeit noch nicht infrage. "Das ist ein großer Eingriff, verbunden mit vielen möglichen Komplikationen", sagt sie und wirkt dabei fast etwas verängstigt. Die Angst vor der operativen Behandlung hat jedoch gute Gründe, wie sie später verraten wird.

Karina kommt es unwirklich vor, wenn sie über diese intimen Themen so offen spricht. Es ist noch keine zweieinhalb Jahre her, da kannte ­Karina niemand außer sie selbst. 37 Jahre lang war sie für alle nur Bernhard, der erstgeborene Sohn.

Mit ihren Eltern, den beiden jüngeren Brüdern und den Großeltern ist Karina auf einem Aussiedlerhof in Bernbach im Allgäu aufgewachsen. Während ihre Mutter sich um den landwirtschaftlichen Betrieb kümmert, arbeitet Karinas Vater als Technischer Zeichner. Doch in seiner Freizeit ist er am liebsten in der Werkstatt auf dem Hof. Das Interesse fürs handwerkliche Arbeiten färbt auf die Kinder ab. Sohn Thomas wird Zimmerer, Bruder Florian Elektriker. Und auch für Karina steht schon früh fest, dass sie Schreinerin werden möchte. "Ich bin sehr kreativ und arbeite gerne mit Werkzeug. Aus einem Stück Holz etwas Neues zu formen, ist genau mein Ding", sagt sie.

"Ich habe mir heimlich Mädelsklamotten gekauft."

Auf dem elterlichen Hof erlebt Karina eine unbeschwerte Kindheit. Sie beteiligt sich rege am Vereinsleben in ihrem Dorf, fährt mit der Familie zum Skifahren in die Berge oder spielt mit ihrer Modelleisenbahn. Doch mit dem Beginn der Pubertät merkt Karina, dass da etwas in ihr ist, was sie zunächst nicht zuordnen kann. "Dieses Etwas wurde immer stärker und ich musste es irgendwie ausleben", erinnert sie sich. Zunehmend intensiver beobachtet sie andere Frauen und will wie sie kurze Röcke anziehen, hohe Schuhe tragen und ihre Lippen rot anmalen. Karina heißt das Mädchen, das sie am meisten beobachtet. "Genau wie sie wollte ich sein. Ich habe dann angefangen, mir heimlich Mädelsklamotten zu kaufen und mich in meinem Zimmer in Karina zu verwandeln."

Bernhard und die erste Freundin

Obwohl Karina immer mehr Raum einnimmt, bestimmt Bernhard noch ihr Leben. Er fühlt sich zu Mädchen hingezogen und will ihnen nahe sein. Mit 18 Jahren tritt di e erste Freundin in das Leben von Karina. "Wir führten eine ganz normale Beziehung. Jede freie Zeit habe ich aber Karina geschenkt. Meine Freundin hat davon nichts mitbekommen." Damals denkt sie, es müsse genügen, Karina im Verborgenen auszuleben und für die Öffentlichkeit Bernhard zu bleiben. "Ich hatte große Angst, dass sich meine Familie, Freunde und Arbeitskollegen von mir abwenden, wenn sie von Karina erfahren." Sie arrangiert sich mit der Situation, schließt ihre Schreinerausbildung ab und wird als Geselle übernommen. Dazwischen absolviert sie den Dienst bei der Bundeswehr.

2003 entscheidet Karina gemeinsam mit einem Kollegen im Betrieb, sich selbstständig zu machen und ihre Firma zu verlassen. Gemeinsam wollen sie an Bauprojekten arbeiten. Und auch privat steht Karina kurz vor einer großen Veränderung. Bernhard soll Karina endgültig weichen. "Ich wollte mit meiner Freundin Schluss machen und mich outen", erinnert sie sich. Das Versteckspiel hielt sie kaum noch aus.

"Der psychische Druck hat das Geschwür entfacht."

Doch gerade in diesem Moment gerät ihr Leben aus den Fugen. "Ich hatte plötzlich starke Rückenschmerze, konnte nicht schlafen und kaum arbeiten." Schließlich hustet sie noch Blut und geht zum Arzt. Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium lautet die niederschmetternde Diagnose. "Mein ganzer Körper war voller Metastasen. Die Ärzte gaben mir eine 50:50-Chance zu überleben."

Chemotherapie mit Komplikationen

Statt ihre Firma aufzubauen und Karina aus ihrem seelischen Gefängnis zu befreien, muss sie sich nun auf ihren Überlebenskampf konzentrieren. An einer Chemotherapie führt kein Weg vorbei. Durch die starken Medikamente verliert sie ihr Haar und wird gebrechlich. Schließlich ist sie nur noch Haut und Knochen, wiegt weniger als 50 Kilogramm. Komplikationen in der Behandlung kommen hinzu. Bei einer Stammzellentransplantation wird Karina aus Versehen die Lunge angestochen , die fast komplett in sich zusammenfällt. "In diesem Moment dachte ich, es geht zu Ende", sagt sie und ihr Blick schweift wieder aus dem Fenster des Cafés. Karina hält einen Moment inne. Dann nippt sie an ihrem Aperol Spritz und fängt wieder an zu strahlen: "Zum Glück kam alles anders."

Mit einem Kompressor können die Ärzte ihre Lunge wieder entfalten. Auch die Chemotherapie schlägt an. Einige Wochen später kann Karina das Krankenhaus verlassen. Der Krebs ist weg. Doch Bernhard ist noch da .

Leidenschaft für Holz: Karina liebt das handwerkliche Arbeiten seit ihrer Kindheit. Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Allerdings zeigt sie nun auf der Baustelle ihre weibliche Seite. Lippenstift und ­lackierte Fingernägel sind für sie nicht mehr wegzudenken. - © Ulrich Steudel

Heute ist sich Karina sicher: "Der psychische Druck, das ganze Versteckspiel hat das Geschwür entfacht." Trotzdem bringt Karina nach ihrer Genesung nicht die Kraft auf, zu sich zu stehen. Auch ihre Freundin kann sie nicht loslassen. "Sie war meine wichtigste Stütze, als es mir richtig schlecht ging. Ohne sie hätte ich es vielleicht nicht überlebt." Sie entschließt sich zu einem Bekenntnis zu ihrer Beziehung und zieht mit ihrer Freundin in die erste eigene Wohnung. 2008 macht sie ihren Schreinermeister und etabliert sich als erfolgreiche Unternehmerin.

Doch die Unterdrückung von Karina lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Sie hält es schließlich nicht mehr aus und trennt sich von ihrer Freundin. "Am Ende haben wir nur noch wie in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt. Das war keine Liebesbeziehung mehr."

Das Outing und die Folgen

Wieder sieht Karina eine Chance auf den Befreiungsschlag, wieder schafft sie es nicht. Wieder hat Bernhard die Oberhand. Sie stürzt sich in die nächste Beziehung zu einer Frau. Gefühle seien aber auch diesmal im Spiel gewesen, versichert sie. Das Versteckspiel von Karina geht weiter, bis es schließlich Ende 2016 so weit ist. Die Fassade zerbricht .

Ihre Freundin hatte da schon eine Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Schließlich ertappt sie Karina, als sie sich in ihrem Zimmer verwandelt. Die Beziehung geht in die Brüche, doch Karina ist nun frei. "Meine Freundin ist ausgezogen und Karina aber mal so richtig eingezogen", sagt sie mit einem Grinsen im Gesicht. Karina mistet ihren Kleiderschrank aus. Neben der Arbeitskleidung bleiben nur Frauenkleider übrig.

Kurze Zeit später zeigt sich Karina öffentlich auf einer Party. "Ich wurde gleich in die Mädels­clique aufgenommen." Sie bestärken Karina, zu sich zu stehen. Nun lösen sich alle Fesseln. Die nächste Person, die es erfährt, ist ihr Geschäftspartner. ­Karina merkt schnell, dass er sich sehr schwertut mit Karinas Offenbarung. Dass sein Kollege Bernhard plötzlich eine Frau sein soll. "Er hat mir erstmal versichert, das wäre kein Problem. Aber am nächsten Tag habe ich ihm schon angemerkt, dass es ihn sehr beschäftigt und er sich nicht so schnell daran gewöhnt", sagt sie lachend. Immer noch kommt es vor, dass er sie bei Geschäftspartnern als "Kollegen" vorstellt. "Und er nennt mich Cosi statt Karina." Das ist seit der Jugend ihr Spitzname.

"Du bleibst trotzdem mein Kind."

In den darauffolgenden Wochen weiht Karina immer mehr Personen aus ihrem Freundeskreis ein. "Die meisten haben sich für mich gefreut. Meine Ängste waren unbegründet. Das hat mir immer mehr Selbstvertrauen gegeben." Schließlich traut sie sich auch, ihren Eltern zu gestehen, wer sie wirklich ist. Ihre Mutter ahnte es schon lange. Sie hatte sogar bereits Bücher über das Thema Transsexualität gelesen. Sie nimmt ihre Tochter in den Arm. Auch ihr Vater versichert ihr: "Du bleibst trotzdem mein Kind." Mit trockenem Humor begegnen ihre Brüder der Situation. Einer von ihnen erinnert sich, wie er Karina in ihrer Jugend schon mal verkleidet gesehen hatte. "Ich dachte, das ist wieder weg", sagt er.

Karina steht nun zunehmend in der Öffentlichkeit zu ihrer Sexualität. Nicht immer bekommt sie Zuspruch. Ein Vereinskollege, mit dem Karina seit Jahren Motorrad und Ski fährt, tut sich sehr schwer damit, dass ihr Kumpel Bernhard nun als Frau auftritt. Der Kontakt wird weniger. Auf einer Après-Ski-Party wirft ihr ein anderer abwertende Kommentare an den Kopf. Karina kann damit gut umgehen. "Ich habe das Outing zu keiner Zeit bereut", sagt sie.

Erste Beziehung zu einem Mann

Über das Internet lernt sie ihren ersten Freund kennen. Er ist bisexuell, war schon verheiratet, hat Kinder. Die Beziehung hält allerdings nur ein paar Monate. "Ich bin noch am ausprobieren. Ich suche noch nach dem richtigen Mann", sagt Karina und wirkt dabei fast euphorisch.

Trotz aller Veränderungen in ihrem Leben gibt es etwas, das immer Bestand hat – ihr Handwerk. "Mein Geschäftspartner macht sich schon Sorgen, dass ich bald keine Lust mehr aufs Handwerk habe, wenn sich meine Interessen als Frau ändern. Aber ich kann ihn beruhigen. Das Arbeiten mit Holz bleibt meine Leidenschaft."