Ein Stock gehörte früher zum feinen Herrn dazu. Heute muss Stockmacher Geyer neue Wege einschlagen, um weiter von seinem Handwerk leben zu können. Mit Erfolg: Sogar Prominente aus den USA führen seine Stöcke aus.
Steffen Guthardt
Anfang 40, groß gewachsen, athletisch gebaut. Dass Michael Geyer am Stock geht, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten. Alt und gebrechlich müsste dieser Mann doch sein, wenn er einen Stock zum Gehen benötigt. Gilt der Stock heute vor allem als medizinisches Produkt, war er früher ein modisches Accessoire. Noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein waren Stock und Hut unverzichtbare Begleiter des gut gekleideten Herrn.

In der Blütezeit des Stocks wurden in Deutschland jährlich mehrere Millionen Exemplare verkauft. Im thüringischen Dorf Lindewerra, direkt im Dreiländereck mit Hessen und Niedersachsen gelegen, war das Stockmacherhandwerk sogar der wichtigste Wirtschaftszweig. Rund 30 Familien in dem Dorf mit nur 250 Einwohnern lebten zeitweise vom Stockverkauf. Das brachte Lindewerra den bis heute gebrauchten Namen des deutschen "Stockmacherdorfs" ein. Sogar im Stadtwappen sind zwei Wanderstöcke zu sehen.
Nur zwei Betriebe übrig
An die Glanzzeit des Handwerks erinnert heute noch ein Stockmacher-Museum im Ort. Vor allem Radfahrer und Wanderer in der Region informieren sich hier über den Beruf, 4.000 Besucher kommen im Jahr.
Und dann gibt es noch Michael Geyer, dessen Markenzeichen ein schulterhoher Wanderstock mit einem handgeschnitzten Geierkopf ist.
Der 42-Jährige führt die Tradition seiner Familie weiter und leitet den Stockmacherbetrieb bereits in fünfter Generation. Damit ist die Firma Geyer eines von nur zwei verbliebenen Unternehmen in Deutschland, das Wanderstöcke noch nach traditioneller Herstellung in Handarbeit produziert. Sein einziger Wettbewerber, die Firma Gastrock-Stöcke, sitzt im Nachbarort. Darüber nachgedacht, ebenfalls aufzuhören, hat Geyer auch schon einmal, aber dazu macht ihm sein Beruf doch zu viel Spaß. Auch deshalb, weil er mit der Zeit gegangen ist und mit einem durchdachten Geschäftskonzept die Umsätze auf einem stabilen Niveau halten konnte.
Weltweite Kunden
Das Ladengeschäft vor Ort macht bei Michael Geyer nur einen Bruchteil seines Umsatzes aus. Sein Kerngeschäft liegt beim Weiterkauf der Stöcke an den Handel. Nach ganz Europa, aber auch in die USA und Asien, werden Geyers Stöcke verkauft. Heiß begehrt sind die Wanderstöcke aus Lindewerra aber vor allem in den Souvenirshops im Umkreis touristischer Bergregionen wie den Alpen oder den Highlands in Schottland.
Durch die internationale Ausrichtung der Firma kommt es auch immer wieder vor, dass Prominente die Stöcke von Michael Geyer ausführen. Schon häufiger hat er im Fernsehen Schauspieler mit einem seiner Stöcke auftreten sehen. Zum Beispiel Hugh Laurie, der bis 2012 in über 170 Episoden als Dr. House in der gleichnamigen US-Serie mit einem Stock aus Lindewerra auftrat.
Seite 2: Erfolgreicher Verkauf im Internet
Erfolgreicher Online-Shop
Und der Stockmacher hat sich noch ein weiteres Standbein aufgebaut. Er verkauft seine Stöcke über einen Online-Shop im Internet, der direkt an den Firmenauftritt angeschlossen ist. Damit weckt er auch bei jüngeren Menschen das Interesse an seinen Stöcken. Ob pinkfarbene Buchenstöcke für Kinder, Stöcke für Linkshänder oder Krankenstöcke – 200 Modelle umfasst das Sortiment. "Und der Verkauf läuft gut", berichtet Geyer.
geyer3Hinzu kommen noch Stöcke, die Geyer auf individuellen Kundenwunsch anfertigt. Insgesamt kommt er so auf eine Produktion von rund 70.000 Stöcken im Jahr.
Geyer ist damit gut ausgelastet. Immerhin dauert es bis zu drei Wochen, bis eine Produktionskette mit 3.000 Stöcken abgeschlossen ist. Jeder einzelne Arbeitsschritt wird bis heute von Hand erledigt. 32 Arbeitsschritte braucht es bis zum fertigen Wanderstock. "Das sieht man dem Stock auch an und ist letztlich mein Erfolgsgeheimnis", sagt Geyer.
Import aus Südeuropa
Während Geyer die Stöcke in seiner kleinen Werkstatt noch fast genauso herstellt wie sein Ururgroßvater vor 160 Jahren, schlägt er beim Wareneinkauf inzwischen neue Wege ein. Um die Produktionskosten niedrig zu halten, importiert Geyer das Rohholz aus Spanien und greift nicht mehr auf die umliegenden Wälder zurück, wie es seine Vorfahren taten. Die Esskastanie, die Geyer wegen ihrer sanften Oberfläche hauptsächlich für die Herstellung verwendet, wächst in Spanien wegen der vielen Sonnenstunden im Jahr wesentlich schneller als in Deutschland. Geyer macht aber keinen Hehl daraus, dass auch die viel geringeren Arbeitskosten und die damit verbundenen niedrigeren Einkaufspreise für den Bezug aus dem Ausland sprechen.
Ganz alleine würde Geyer die Produktion nicht stemmen können. Zwei Angestellte beschäftigt er, von denen einer noch den vom Aussterben bedrohten Titel Stockmachermeister trägt. Der Handwerksberuf wurde für junge Leute uninteressant, als mit der Wende Ende der 80er-Jahre die Genossenschaften aufhörten zu existieren, die bis dahin die Hauptlieferanten für Holz waren. Hinzu kam die immer stärker werdende Konkurrenz industrieller Hersteller, die im Zuge des "Nordic-Walking-Booms" den Markt für sich einnahmen und in Massen Stöcke aus leichter und stabiler Glasfaser an die einstigen Kunden der Stockmacher verkauften.
Zurück zur Natur
Geyer beobachtet jedoch, dass gerade ein Umdenken in der Gesellschaft stattfindet und viele Menschen wieder die Qualität echter Naturprodukte schätzen lernen. Und so kann er sich auch vorstellen, dass eines Tages sein heute achtjähriger Sohn den Betrieb in der sechsten Generation weiterführt. "Er hat schon ja gesagt", ergänzt Geyer mit einem Lachen.