Strafzölle, die Regierungsbildung in Italien und europaskeptische Strömungen in Polen und Ungarn stellen die Europäische Union vor große Herausforderungen. Jetzt muss gehandelt werden – sonst wird Europa zur historischen Randfigur.
Lothar Semper

Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Hiobsbotschaften über Europa – besser die Europäische Union – hereinbrechen. Die Entscheidung der britischen Wähler vor knapp zwei Jahren, der EU den Rücken zu kehren, markierte zwar nicht die erste große Krise, aber doch einen einschneidenden Punkt. Zuletzt nun die Regierungsbildung in Italien, wo bekennende Gegner von EU und Euro jetzt an der Macht sind. Nimmt man noch die Entwicklung in EU-Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn sowie das Erstarken entsprechender politischer Kräfte in vielen weiteren Ländern hinzu, so zeigt sich, die Fliehkräfte – weg von der EU – nehmen massiv zu. Dabei wäre eine starke und einige EU notwendiger denn je. Die Welt ist in einem gewaltigen Umbruch. Jahrzehntelange Partnerschaften wie das transatlantische Bündnis werden brüchig. Zweckbündnisse, nicht mehr Wertebündnisse, prägen die Entwicklung. US-Präsident Trump konfrontiert die Europäer bei seinen Strafzöllen wie auch mit der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran mit Entscheidungen, die allein er für richtig hält und dementsprechend trifft und umsetzt. Für ihn ist Politik Geschäft und nicht Diplomatie. Das führt zu ganz neuen Konstellationen. Mal suchen die Europäer die Nähe Russlands, mal die von China – oder auch von beiden. Das Schlimmste ist aber, dass die Europäer kaum noch von jemand ernst genommen werden. Wie sollen sie das auch, wenn beispielsweise, um Strafzölle zu verhindern, einzelne Mitgliedsstaaten alleine meinen, nach Washington pilgern zu müssen, um Ausnahmen für sich zu erreichen.
Was ist falschgelaufen, dass es so weit gekommen ist, dass Europa heute so desolat und schwach dasteht? Zwei Sachverhalte sind es vor allem.
Zum einen ist die EU hinsichtlich der Anzahl der Mitgliedsstaaten zu rasch gewachsen. Der Erweiterung hätte zunächst eine Vertiefung der Zusammenarbeit vorausgehen sollen. Dass dies nicht geschah, zeigt sich schmerzlich daran, dass eine gemeinsame Asylpolitik genauso wie eine gemeinsame Verteidigungspolitik fehlen. Die Aufnahme neuer Mitglieder hatte allerdings auch damit zu tun, dass man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den Staaten in Ost- und Südosteuropa eine Perspektive aufzeigen wollte. Man sollte sich allerdings schon sehr genau überlegen, ob bereits wieder die nächste Erweiterungsrunde eingeläutet werden soll.
Zum anderen bietet Brüssel den Gegnern der EU leider auch immer wieder Angriffspunkte, die diese sich wünschen. Statt sich um die zentralen Probleme zu kümmern, ergeht man sich im Kleinklein und gibt den Menschen so den Eindruck, dass die in der fernen Hauptstadt Europas sich um die Anliegen der Bürger vor Ort überhaupt nicht scheren und sie stattdessen mit Bürokratie schikanieren. Das Handwerk weiß davon ein Lied zu singen. Die Angriffe auf den Meisterbrief, die Tachographenverordnung oder die Entsenderichtlinie.
In knapp einem Jahr werden die nächsten Wahlen zum EU-Parlament stattfinden. Es ist zu befürchten, dass die Wahlbeteiligung erneut sehr niedrig sein wird und die EU-Gegner im Parlament deutlich stärker vertreten sein werden. Noch haben die Parteien Zeit, für ein starkes Europa zu werben und zu streiten. Gelingt dies nicht, werden Europa und seine Staaten in der Weltpolitik und Weltwirtschaft eine immer geringere Rolle spielen. In einer solchen Zeit braucht es Führungspersönlichkeiten. Mit der notwendigen Rücksicht auf die anderen müssen sich Merkel und Macron dieser Aufgabe gemeinsam – und zwar bald – stellen.