Jörg Dittrich ist der neue Mann an der Spitze des deutschen Handwerks. Der Dachdeckermeister aus Dresden wird bewundert für seine Schlagfertigkeit, gilt in der Politik als bestens vernetzt – und ist ein Familienmensch.

Bundesfinanzminister Christian Lindner ist sichtlich verdutzt, als sein Gastgeber ihm auf offener Bühne ein Geheimnis beichtet. "Einige Leute hier wollten Sie ausladen", verrät Jörg Dittrich, Präsident der Handwerkskammer Dresden, während er den FDP-Chef auf der Meisterfeier in der sächsischen Landeshauptstadt begrüßt. "Ich kann Ihnen diese harte Wahrheit nicht ersparen."
Dittrich spricht aus, was viele Handwerker im Herbst 2022 denken. Die Betriebe fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, einige sehen ihre Existenz gefährdet durch die hohen Energiepreise. Doch Lindner wird den aufgewühlten Handwerkern ihren Groll nicht übelnehmen. Und das liegt auch an Jörg Dittrich. Der versteht es, harte Kritik charmant zu verpacken und augenzwinkernd zu äußern. Ehrengäste erleben das jedes Jahr auf der legendären Meisterfeier in Dresden, die der Präsident stets bühnenreif absolviert. Und dabei nicht mit Selbstironie spart. "Ich war auch mal dünner", bemerkt er, als er sich durch die Reihen des Publikums zwängt und salvenweise Pointen und freche Fragen abfeuert. Salopp bis zur Schmerzgrenze, um immer wieder die Kurve zu kriegen.
Nachfolger für Wollseifer gesucht
Schon bald darf Dittrich seine Schlagfertigkeit in Berlin unter Beweis stellen. Der 53-Jährige wurde am 8. Dezember zum Präsident des mächtigen Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) gewählt – und tritt damit die Nachfolge von Hans Peter Wollseifer aus Köln an. Seit 2014 ist Wollseifer Deutschlands oberster Handwerker, geschätzt von Politikern für seine Fairness und Sachlichkeit, beliebt unter Handwerkern für seine unkomplizierte Art.
Jörg Dittrich führt einen Dachdeckerbetrieb in vierter Generation und ist seit zehn Jahren Präsident der Handwerkskammer Dresden. Weggefährten wie Bäckerpräsident Michael Wippler charakterisieren ihn als "blitzgescheiten Kollegen" und "vorbildlichen Handwerksunternehmer". Die "Bild"-Zeitung nennt Dittrich Dresdens "mächtigsten Handwerksmeister".
Erfolgreiches Familienunternehmen
Dittrich leitet ein Unternehmen mit mehr als 60 Mitarbeitern. In einem Betrieb dieser Größe – der Chef spricht gern vom "Dittrich-Dachschaden-Team" – ist es dem Geschäftsführer nicht möglich, jeden Tag acht Stunden auf dem Dach zu stehen. Doch der "leidenschaftlich selbstständige Handwerksmeister" hat im Laufe der Zeit gelernt zu delegieren. Seinem Pioniergeist und seiner Risikobereitschaft ist es zu verdanken, dass das Familienunternehmen heute weit mehr ist als ein Dachdeckerbetrieb, sondern auch Dachklempner, Zimmerer und Trockenbauer beschäftigt. 1998 wurde mit einem Partner eine Baufirma in Breslau gegründet. 2014 kam eine Tochterfirma in Dresden hinzu, die sich der Dach- und Fassadenbegrünung widmet. Dittrich ist stolz darauf, dass drei der acht Azubis junge Frauen sind – und dass es in seiner Firma eine Führungsebene mit "Menschen unter 50" gibt. Das Unternehmen gilt als innovativ. Dittrich erprobt gerne neue Methoden in der Baustellenorganisation und initiierte Forschungsprojekte, unter anderem mit Dachrobotern.
"Meine Frau steht mitten im Arbeitsleben"
Jörg Dittrich
In der Firma kann Dittrich sich auf die Familie verlassen. Sein Sohn Maximilian ist Dachdeckermeister und Kalkulator. Sein Neffe Johannes ist ebenfalls Dachdeckermeister und leitet die Niederlassung Berlin. Seine Frau Anne ist die kaufmännische Leiterin. "Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau, das ist einer der schlimmsten Sätze, die ich je gehört habe. Nein, die Frau steht neben mir", sagt Dittrich. "Meine Frau steht mitten im Arbeitsleben."
Jörg Dittrich ist Vater von sechs Kindern
Jörg Dittrich bezeichnet sich selbst als Familienmensch. Er ist in zweiter Ehe verheiratet und hat insgesamt sechs Kinder, vier sind noch klein. Wie aber lassen sich die Verpflichtungen eines ehrenamtlichen Handwerksfunktionärs mit den Aufgaben als Vater und den Herausforderungen als Unternehmer in Einklang bringen? Zumal in der Hauptstadt Berlin, wo in Krisenzeiten ein Termin den nächsten jagt. "Schlafmangel gehört zum Job", scherzt Dittrich, um ernst fortzufahren: "Die Aufgabe des Ehrenamtes ist es, die Sichtweise aus der Praxis einzubringen, sozusagen als Berufskollege und Sprachrohr für viele andere, die diese Erfahrungen teilen", sagt er. "Ich will aber kein zweiter Generalsekretär sein. Ich habe kleine Kinder. Und ich werde in meiner Firma gebraucht."
Bisher gelingt Dittrich der Spagat, auch weil er versucht, sein Familienleben mit beruflichen Terminen zu verbinden. Seine Frau und die Kinder begleiten ihn bisweilen zu offiziellen Anlässen. Als etwa der Grundstein für das neue Bildungszentrum in Dresden gelegt wurde, nahm der Präsident seinen kleinen Sohn mit. "Ich kann die Kinder nicht jeden Abend ins Bett bringen. Aber ich versuche, morgens da zu sein." Und deshalb fährt Dittrich, der keinen Alkohol trinkt, abends nach Terminen noch nach Hause statt im Hotel zu bleiben. Es sei ihm wichtig, am nächsten Morgen mit der Familie frühstücken zu können – und mit seiner Frau auch über seine Erlebnisse als Handwerkskammerpräsident zu sprechen. "Ich bin nicht der Typ, der schweigt. Ich brauche diesen Austausch. Das ist für mich ein Anker."
Handwerkerfamilie mit Tradition
Dittrich entstammt einer traditionsreichen Handwerkerfamilie. Schon sein Urgroßvater war Dachdeckermeister. Sein Vater Claus, ebenfalls Dachdeckermeister, war Landesinnungsmeister und Präsident der Handwerkskammer Dresden, bis Jörg 2012 zu seinem Nachfolger gewählt wurde. Jörg Dittrich ist es rasch gelungen, aus dem Schatten des Vaters herauszutreten und seinen eigenen Stil zu prägen. Und der ist emotional, jovial, humorvoll. Er sagt von sich selbst, dass er gerne esse, von sächsischem Kuchen gar nicht genug bekommen könne und "eigentlich nie satt" sei. Er lacht viel, und wenn er nicht lacht, dann schmunzelt er oder blickt verschmitzt drein. "Ich höre gerne Witze und erzähle gerne Witze." Sein Bruder ergänzt: "Er hat gerne Menschen um sich." Ihn zeichne geradezu eine "Neugier auf Menschen" aus.
"Er hat gerne Menschen um sich"
Christoph Dittrich
Einen anderen Jörg Dittrich erleben Politiker mitunter in Verhandlungen. Da geht es beinhart zur Sache, und manchmal wird es um der Sache willen laut. Wobei Weggefährten berichten, dass sie Dittrich als Mann erlebten, der froh sei um jede Konfrontation, die er nicht austragen müsse. Sein Bruder sagt: "Er ist ein emotionaler Mensch, der keine Scheu hat, mit dieser Emotion umzugehen." Bäckerpräsident Wippler pflichtet bei: "Er erfasst Situationen schnell, auch in Diskussionen." Jörg Dittrich selbst wertet seine Lust am gepflegten Streit als "Stärke und Schwäche". "Ich kann hart argumentieren. Das heißt aber nicht, dass ich immer Recht habe. Da muss ich vorsichtig sein."
In der Mitte des politischen Spektrums
Davon konnte sich Tino Chrupalla beim Parlamentarischen Abend in Berlin überzeugen. Der AfD-Chef, von Beruf Malermeister, hob zu einer Klage an, dass sich viele Betriebe nicht mehr vertreten fühlten von der Handwerkskammer. Dittrich entgegnete schlagfertig, ob Chrupalla bewusst sei, dass sich auch 73 Prozent der Sachsen nicht von der AfD vertreten fühlten. "Die von der AfD merken ja, dass ich selbst nicht am politischen Rand stehe, sondern in der Mitte des politischen Spektrums. Die reiben sich halt an mir", sagt Dittrich.
"In der Politik ist er exzellent vernetzt"
Bäckerpräsident Michael Wippler
Dittrich ist parteilos, pflegt aber einen kurzen Draht zu den demokratischen Parteien. "In der Politik ist er exzellent vernetzt", sagt Bäckerpräsident Michael Wippler. Er duzt sich mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) und dem Dresdner Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP). Die Zusammenarbeit mit der Politik wertet Dittrich durchaus als Gratwanderung. "Wer immer nur auf die Politik draufhaut, bekommt keine Ergebnisse. Wer zu nah dran ist, ist schnell korrumpiert." Die Kunst bestehe darin, die Balance zu finden. "Und es ist notwendig, der Politik deutlich zu machen, dass man auf unterschiedlichen Seiten des Tisches sitzt. Ich bin nicht deren Berater."
Jörg Dittrich und seine Liebe zur Musik
Und dann gibt es noch den musikbegeisterten Jörg Dittrich. "Die Hälfte meiner Familie kommt aus der Kunst", sagt der Handwerker. Sein Bruder ist studierter Musiker und Generalintendant am Städtischen Theater in Chemnitz, die Schwägerin spielt Geige an der Dresdner Philharmonie. Die Mutter der Dittrichs war Kirchenmusikerin und Musiklehrerin, Kindheit und Jugend spielten sich auch im Chor ab. Die Jungen erlebten eine "beglückende Kindheit", wie sich Jörg Dittrichs Bruder Christoph erinnert, obwohl der selbstständige Handwerksbetrieb des Vaters in der DDR stets von Enteignung und Verstaatlichung bedroht war. "Wenn andere Kinder die Charts gehört haben, habe ich mir Beethovens Siebente reingezogen", sagt Jörg Dittrich. "Meine Ohren sind recht gut gebildet." Jörg Dittrich war ein guter Schüler, ein "Streber", wie er selbst sagt. Lernen fiel ihm leicht. Dennoch verzichtete er darauf, das Abitur zu machen, der Frontalunterricht nervte ihn. "Ich bin meinen Eltern so dankbar, dass sie das mitgemacht haben." Dittrich ging von 1986 bis 1988 im Familienbetrieb in die Ausbildung und wurde Dachdecker. Später folgte ein berufsbegleitendes Studium zum Diplom-Ingenieur.
Und er besuchte in der DDR die Christenlehre. In dem sozialistischen Land war die christliche Unterweisung in den staatlichen Schulen verboten, daher zogen sich die Kinder evangelischer Familien in die Räume der Kirchengemeinden zurück. Die Kirche war "Sammelbecken und Treffpunkt der Selbstvergewisserung und des Widerstands", schildert Christoph Dittrich. Sein Bruder Jörg erinnert sich daran, wie ihn einmal ein paar systemtreue Jungen vor der Christenlehre abfingen und ihm juckende Hagebutten unter das Hemd rieben. Doch das konnte ihn nicht abbringen von seinen Überzeugungen. Kurz vor dem Ende der DDR 1988 musste er noch Militärdienst in der Nationalen Volksarmee leisten. "Das war für einen Typen wie mich wie Knast. Ganz furchtbar", sagt Jörg Dittrich. "Ich war in keiner Friedensbewegung. Aber damals habe ich erkannt, was der Satz bedeutet: Freiheit ist nicht verhandelbar." Bis heute charakterisiert Dittrich sich in Biografien als "evangelischer Christ".
"Freiheit ist nicht verhandelbar"
Jörg Dittrich
Zum 30-jährigen Bestehen des Sächsischen Handwerkstags etwa lud Dittrich den evangelischen Landesbischof zu einem Vortrag ein. Ein Treffer ins Schwarze: Der Geistliche überraschte die Gäste mit einer ebenso kurzweiligen wie scharfsinnigen Betrachtung, wie Personen in Verantwortung mit der aktuellen Krise umgehen könnten, ohne die Kontrolle und die Nerven zu verlieren.
Freude an Comedy
Dittrich und sein Team sind ohnehin stets für Überraschungen gut. Mal diskutiert er in einem Online-Talk mit dem sächsischen Landesärztechef über das Reizthema Impfen, dann streitet er mit dem Kanzleramtsminister über den Mindestlohn. Mal tritt auf der Meisterfeier in Dresden ein gravitätischer Finanzminister auf, dann macht der Fernsehphilosoph Richard David Precht dem Publikum Mut. Im einen Jahr regt Bundespräsident Joachim Gauck die Zuhörer zum Nachdenken an, im anderen liest Rentenforscher Bernd Raffelhüschen den Zuhörern die Leviten. Mal ertönt Popmusik auf der Meisterfeier, dann spielt eine Bigband. Dittrich sprüht vor Einfällen. Wenn ihm ein Gedanke durch den Kopf schießt, notiert er ihn direkt, schließlich könnte sich der Geistesblitz später einmal für eine Rede verwenden lassen, erzählen Freunde. Dittrich macht daraus keinen Hehl: Er bereite sich akribisch auf Veranstaltungen vor. "Ich muss mich vorbereiten. Das empfinde ich auch als Zeichen des Respekts." Ihn inspirieren Comedy-Sendungen mit Wortwitz, Nachrichten im Deutschlandfunk und im MDR ebenso wie Biografien, Sachbücher oder die Lokalzeitung.
Respekteinflößender Apparat
Sein Interesse an so vielen Themen, seine Neugier auf Neues kommen ihm im Handwerk zugute. Kaum ein Wirtschaftszweig ist so kleinteilig organisiert, manche Kritiker sagen: überorganisiert. Und nirgendwo sonst braucht ein führender Repräsentant so viel Detailwissen aus ganz verschiedenen Gewerken. Der Apparat des Spitzenverbands ZDH ist respekteinflößend, die Fachverbände sind mächtig, einige Innungen kämpfen ums Überleben. "Das Charakteristikum am Handwerk ist seine Vielschichtigkeit", sagt Dittrich, um zu schwärmen: "Handwerk bietet die einzigartige Möglichkeit, Geist in Materie fließen zu lassen." Im Handwerk begegne man wunderbaren Menschen, "von denen Du sagst, was hat denn der für eine göttliche Gabe, dass er so etwas kann?"
"Handwerk bietet die einzigartige Möglichkeit, Geist in Materie fließen zu lassen."
Jörg Dittrich
Und wo sieht er derzeit die ganz konkreten Herausforderungen fürs Handwerk? Über die Megathemen Fachkräftemangel und Bürokratie, Energiekrise und Klimawende weiß Dittrich als altgedienter Funktionsträger in Sachsen und ZDH-Präsidiumsmitglied in Berlin bestens Bescheid. "Wir laufen gerade in eine der größten Krisen des Landes hinein. Ich spüre, welche Erwartungshaltung auf denen lastet, die Verantwortung fürs Handwerk tragen." Das ist kein Alarmismus. Zuletzt hatte sich sogar der sonst so optimistische ZDH-Präsident Wollseifer zu dramatischen Appellen hinreißen lassen. Dittrich rechnet es Wollseifer hoch an, dass er Handwerkerinnen und Handwerkern zuhört, welche Sorgen sie plagen. "Es ist keine Floskel. Man muss zuhören. Man muss mehr zuhören. Welche Lebenserfahrungen haben unsere Handwerker gemacht? Was haben die Betriebe zu berichten? Daraus ergeben sich unsere Themen."
Biografie: Jörg Dittrich
Geboren am 1. August 1969 in Dresden, verheiratet, sechs Kinder
Beruflicher Werdegang (Auswahl):
1976 – 1986 56. POS Dresden, 10. Klasse, Polytechnischer Abschluss
1986 – 1988 Ausbildung zum Dachdecker in der Firma Dachdeckermeister Claus Dittrich, Dresden
1990 – 1995 Abend- und Fernstudium zum Bauingenieur/Dipl.-Ing. (FH) für Hochbau
1993 – 1995 Meisterschule, Abschluss als Dachdeckermeister
seit 09/1997 gleichberechtigter, alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der DDM Claus Dittrich GmbH & Co. KG
seit 05/1998 Gründung der Mirski + Dittrich sp. zo.o. in Wroclaw (Polen), 2. Geschäftsführer
seit 08/2011 Mitglied im Verwaltungsrat IKK classic
seit 06/2012 Präsident der Handwerkskammer Dresden
seit 05/2013 Mitglied im Verwaltungsrat der Bürgschaftsbank Sachsen GmbH
seit 05/2013 Mitglied im Aufsichtsrat Signal Iduna Allgemeine Versicherung Aktiengesellschaft
seit 09/2014 Honorarkonsul für Ungarn in Sachsen
seit 05/2015 Präsidiumsmitglied im Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH)
seit 05/2015 Mitglied im Vorstand des Deutschen Handwerkskammertages (DHKT)
seit 01/2017 Mitglied im Geschäftsführenden Präsidium des ZDH Berlin
seit 04/2018 Vorsitzender des Verwaltungsrates der Bürgschaftsbank Sachsen GmbH
seit 2019 Mitglied des Verwaltungsrates der Ostsächsischen Sparkasse
seit 06/2021 Präsident des Sächsischen Handwerkstages e. V.
Privates:
seit 2010 Vorstandsvorsitzender des Dresdner Sportclubs 1898 Volleyball
Kuratorium des Dresdner Kinder-Hilfe e.V.
Rotary Club Dresden – Blaues Wunder
Quelle: Handwerkskammer Dresden, Firmenangaben