Neue Glocken für den Dom Glockengießen: Mit Lehm, Pferdemist und Kälberhaar

Der Magdeburger Dom soll wieder ein vollständiges Kathedralgeläut bekommen. Die erste von acht neuen Glocken hat in der Glockengießerei Bachert das traditionelle Lehmformverfahren durchlaufen – ein Prozess, den schon Friedrich Schiller beschrieben hat. Ebenfalls in Auftrag: Die künftig zweitgrößte Glocke Deutschlands.

Guss der Glocke Amemus für den Magdeburger Dom
Dass die zähe Glockenspeise, fließe nach der rechten Weise: Daniel Salzer, Nicolai Wieland und Andreas Leistner (v.l.) überwachen den Guss der Glocke Amemus für den Magdeburger Dom. - © Ulrich Steudel

Freitag, 15 Uhr: Die Spannung steigt, die Hitze sowieso. Aus dem Ofen schlagen Flammen in den offenen Abzug, innen wabert flüssige Bronze bei reichlich 1.000 Grad. Traditionsgemäß sollte die Glut zur Sterbestunde Jesu in die Form fließen. Aber die Glockengießer üben sich in Geduld. Noch fehlen ein paar Grad zur exakten Temperatur. Wann es losgeht, hängt von vielen Faktoren ab, bei denen Erfahrungswerte eine große Rolle spielen. In keinem anderen Handwerk ist über Generationen hinweg vermitteltes Wissen so bedeutsam wie bei den Glockengießern.

Rund 30 Gäste aus Sachsen-Anhalt sind Anfang September nach Neunkirchen im Necker-Odenwald-Kreis gepilgert. Sie wollen in der Glockengießerei Bachert dem Guss der Amemus beiwohnen. Die Glocke ist mit sechs Tonnen ein Schwergewicht unter den acht neuen Glocken, die in den nächsten Jahren für den Magdeburger Dom gegossen werden. Zusammen mit den vier vorhandenen historischen Glocken soll die Grabkirche von Kaiser Otto dem Großen im Verlauf des ambitionierten Projekts wieder ein vollständiges Kathedral­geläut erhalten.

Glockengießen nach dem Lehmformverfahren

Als die Glockengießer am Morgen den Schmelzofen anheizten, lagen bereits wochenlange Vorarbeiten hinter ihnen. Bei Bachert entstehen Glocken nach dem Lehmformverfahren, so wie schon zur Gründung der Firma 1725. Diesen Prozess verfolgte auch Friedrich Schiller, als er Ende des 18. Jahrhunderts Feldstudien für sein berühmtes "Lied von der Glocke" betrieb. "Würde der Dichter heute bei uns vorbeischauen, würde er alle Ar­­beitsschritte wiedererkennen", bestätigt Nicolai Wieland. Der 32-Jährige leitet die Glockengießerei Bachert seit vergangenem Jahr in achter Generation.

Der traditionsreiche Familienbetrieb beschäftigt Schlosser, Zimmerer, Glockengießer, eine Künstlerin. Sie bauen Glockenstühle, passen Joch und Klöppel an, verzieren neue Glocken und betreuen bundesweit Kirchgemeinden bei der Wartung und Sanierung ihrer Geläute. Aushängeschild der Firma bleibt aber das Glockengießen nach historischem Vorbild. Rund 60 Glocken verlassen im Schnitt pro Jahr die Werkstatt. In der Glockengießerei Bachert wurden die Glocken für die Dresdener Frauenkirche gegossen, die Jahrtausendglocke für den Hamburger Michel ebenso wie Glocken für die Leipziger Thomas- sowie die Nikolaikirche.

Jede Glocke ist ein Unikat, auch wenn sich der Arbeitsprozess gleicht. Zunächst bauen die Handwerker die innere Kontur der Glocke, den sogenannten Kern. Wie früher schlagen sie die Ziegel von Hand in Form, mauern mit Lehm, Wasser und Stroh. Um eine möglichst glatte Oberfläche zu erhalten, ersetzen sie das Stroh später durch Pferdemist. Als Schablone dient ihnen ein Brett, das senkrecht um die Mittelachse der Gussform kreisen kann. Es gibt zunächst das innere Profil der Glocke vor.

Die Rippe entscheidet über den Klang

Dieses Stück Buchenholz birgt das Geheimnis des Klangs. Bevor mit dem Bau der Form begonnen wird, bestimmt der Glockengießer die Linien­führung des Profils und die verschiedenen Wandstärken der Glocke. Dieser technische Querschnitt, im Fachjargon Rippe genannt, entscheidet über den späteren Klang. "Wir können den Teiltonaufbau bis zu einem Sechzehntel Halbton genau berechnen", sagt Nicolai Wieland.

Die Rippen der Glockengießerei Bachert zeichnen sich durch ihren weichen, grundtönigen Klangcharakter aus. So entstehen neue Glocken, die sich besonders gut in das Klangbild eines historischen Geläuts integrieren. Genau das Richtige für Magdeburg, wo sich ein Verein darum bemüht, dem Dom die vermutlich im Dreißigjährigen Krieg geraubten Glocken wiederzugeben. Die mit 14 Tonnen schwerste neue Glocke im künftigen Geläut wird einmal die zweitgrößte Deutschlands sein – nach dem Dicken Pitter im Kölner Dom.

Falsche Glocke als Platzhalter für die richtige

Vor den Glockengießern liegt also noch ein langer Weg. Allein der Bau der Gussform zieht sich über Monate. Ist der Kern trocken und mit einer Trennschicht aus Asche und Wasser bestrichen, formen die Handwerker die Falsche Glocke – quasi eine Kopie der richtigen. Dafür sägen sie an der Schablone die äußere Kontur aus. Nach diesem Maß wird weiter Material aufgetragen, das abschließend mit Rindertalg bestrichen wird.

Dann modelliert ein Künstler mit Wachs die Zier auf die Falsche Glocke, Ornamente und Schrift als Schmuck für die Glocke. Ein mit Kälberhaar versehener Zierlehm soll die filigranen Elemente des Reliefs schützen, bevor mit dem Mantel der äußere Teil der Gussform aufgetragen wird. Er besteht ebenfalls aus Lehm, Wasser und Stroh. Sind alle drei Teile ausgetrocknet und das Wachs für die Zierelemente ge­schmolzen, heben die Handwerker den Mantel ab, zerstören die Falsche Glocke und setzen ihn wieder auf. Fertig ist die Gussform.

Nicolai Wieland vor Schmelz­ofen und Grube
Nicolai Wieland vor Schmelz­ofen und Grube, in der sich die Gussform verbirgt. - © Ulrich Steudel

Festgemauert in der Erden

Sehen können die Besucher aus Magdeburg die Gussform der Amemus nicht. Sie steht "festgemauert in der Erden", wie Schiller es einst formulierte, in einer Grube direkt vor dem Schmelz­ofen in der Glockengießerei Bachert, umhüllt von Erdreich, das die Handwerker mit der Rüttelplatte verdichtet haben. Nicht jedes Hilfsmittel würde Schiller heute bekannt vorkommen. Wohl aber der Fichtenstamm, mit dem Nicolai Wieland und seine Kollegen wie in Schillers Lied beschrieben immer wieder die Glut im Ofen schüren. Eingehüllt in silberne Feuerschutzanzüge, messen sie die Temperatur, entnehmen der kochenden Bronze Proben, die sie erkalten lassen und auf ihre Eigenschaften prüfen.

Dann der erlösende Moment: Nicolai Wieland bittet Friedrich Kramer, den Landesbischof der evangelischen Kirche Mitteldeutschlands, das Gebet zu sprechen. Alle in der Werkstatt halten inne, ehe die Männer mit kräftigen Hammerschlägen den Ofen anstechen und die glühende Bronze aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn langsam durch einen Kanal aus Ziegelsteinen in die Gussform fließt.

Wie der Lavastrom nach einem Vulkanausbruch

Etwa 20 Minuten dauert das Schauspiel in der Glockengießerei Bachert, das ein wenig an den Lavastrom nach einem Vulkanausbruch erinnert. Bis auf die Verzögerung läuft alles wie geplant. Seniorchef Albert Bachert zeigt sich zufrieden: "Das haben die Jungs hervorragend hinbekommen." Bei Sohn Nicolai Wieland weicht die Anspannung. "Alles reibungslos verlaufen", sagt er erleichtert.

Und doch müssen die Glocken­gießer warten, bis sie das Ergebnis ihrer Arbeit prüfen können. Einige Wochen braucht die Glocke zum Abkühlen, ehe sie behutsam ausgegraben und aus der Form befreit werden kann. Dann wird es noch einmal spannend: Wenn Nicolai Wieland den Koffer mit den Stimmgabeln holt, um der Glocke die ersten Töne zu ent­locken. Wie wird sie antworten? Werden die Töne wie berechnet klingen? Die Glockengießer sind sich ziemlich sicher, dass anschließend auch die externen Sachverständigen die Glocke nach eingehender Prüfung zur Abnahme empfehlen.