Bürokratie Brüssel fremdelt mit dem Mittelstand

Das Handwerk hofft auf umfassende EU-Hilfen im Kampf gegen galoppierende Energiepreise. Eine Delegation aus Hessen besuchte jetzt Brüssel – und vernahm erstaunliche Einschätzungen, wie die mächtigen EU-Behörden mit kleinen und mittleren Unternehmen umgehen.

Bei einer Delegationsreise in die EU-Hauptstadt hat das hessische Handwerk seine Interessen und Erwartungen an die Europäische Union untermauert. In einer Podiumsdiskussion wurde thematisiert, was Brüssel für kleine Unternehmen macht. - © Hessische Landesvertretung in Brüssel / Zacarias Garcia

Im Rahmen einer Delegationsreise in die EU-Hauptstadt hat das hessische Handwerk seine Interessen und Erwartungen an die Europäische Union untermauert. Das Handwerk denke und handele schon längst europäisch und sei ein wichtiger Faktor bei der Transformation der europäischen Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Innovation, sagte Susanne Haus, Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft der Hessischen Handwerkskammern, zur Eröffnung einer Diskussionsveranstaltung in der Hessischen Landesvertretung in Brüssel

Im Kampf gegen die explodierten Energiepreise und einer drohenden Insolvenzwelle setzt das hessische Handwerk große Erwartungen auch an die europäische Ebene. Doch sowohl der CDU-Europaabgeordnete Markus Pieper als auch die Direktorin in der EU-Kommission, Kristin Schreiber, konnten den rund 130 Anwesenden, Handwerkern aus Hessen und Brüsseler Insidern, nur von kleinen Erfolgen in der europäischen Mittelstandspolitik berichten.

"Zwei harte Winter"

Martin Giehl vom Frankfurter Energiedienstleister Mainova AG verwies auf ausgeklügelte Preismodelle. Der Strommarktexperte erwartet für die Betriebe und Verbraucher "zwei harte Winter", die es zu überstehen gelte. Danach würden sich die Energiepreise voraussichtlich auf einem erheblich niedrigeren Niveau einpendeln, das allerdings etwas höher als die Preise vor der aktuellen Krise liegen dürfte.

CDU-Mittelstandsexperte Pieper übte erhebliche Kritik an der Europäischen Kommission, die über das Initiativmonopol bei der EU-Gesetzgebung verfügt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hätte es bei ihrer jüngsten, groß angekündigten "Rede zur Lage der Europäischen Union" versäumt, angemessen auf die Anliegen des Handwerks – wie etwa dem Bürokratieabbau und einem Gesetzesmoratorium – einzugehen. Das von ihr angekündigte "Entlastungspaket" greife zu kurz, weil es sich voraussichtlich nur um Kleinigkeiten sowie Steuervorschläge handele, die obendrein auch noch der Einstimmigkeit im Kreis der 27 EU-Regierungen unterliegen.

Versprechen nicht eingehalten

Das von der Kommission großspurige angekündigte Prinzip, bei jedem neuen Gesetzesvorschlag eine alte Regelung aufzuheben ("One in, one out"), sei nicht eingehalten worden. Pieper zitierte Berechnungen, wonach die Kommission im Vorjahr 1.900 Regelwerke vorgeschlagen, aber nur 1.094 abgeschafft hätte. Sollte die EU-Behörde, wie nach wie vor fest geplant, ihre Regelungsvorschläge zur Transformation der europäischen Wirtschaft ("Fit for 55", "Green Deal") durchsetzen können, dann würden drei Mal so viel neue Regeln auf die Betriebe zukommen als aufgehoben werden.

"Das passt nicht in diese Zeit", sagte Pieper, der sich wie seine Fraktion für ein "Belastungsmoratorium" des Mittelstands ausspricht. "Was uns nicht aus der Krise rausführt, dass kann auch ein Jahr mal ruhen". Erhebliche Kritik über Pieper auch an dem für KMU und Handwerk eigentlich zuständigem Kommissionsmitglied, dem Franzosen Thierry Breton. Sein Verständnis für den Mittelstand sei "gleich Null".

Die Breton unterstellte Kommissionsdirektorin, Kristin Schreiber, deutete an, dass das angekündigte Mittelstandspaket auch eine Neuregelung zum Kampf gegen den Zahlungsverzug enthalten könnte. Mittels einer möglicherweise direkt durchsetzbaren Verordnung könnte dann dem Missstand besser begegnet werden, dass die Rechnungen von Dienstleistern und Lieferanten im Binnenmarktdurchschnitt nur in 40 Prozent der Fälle zeitnah und fristgerecht beglichen würden. Auch wettbewerbsrechtlich werde die Kommission den Ländern entgegenkommen, deutete Schreiber an im Blick auf mögliche, zeitlich befristete Beihilferegelungen für von der Energiepreiskrise betroffene Unternehmen.  

Preise um 1.000 Prozent gestiegen

Der Präsident des Hessischen Handwerkstages, Stefan Füll, forderte Brüssel angesichts einer Verfünffachung der Energiepreise auf, zumindest die Rahmenbedingungen für eine Preisdeckelung in den Ländern zu verbessern. Martin Giehl (Mainova AG) sagte, dass zwischen Juni und September die Strompreise – ähnliches gelte für Gas – um 1.000 Prozent gestiegen seien. Nach VKU-Berechnungen drohen den Energieversorgern im kommenden Jahr Forderungsausfälle zwischen zehn und 15 Prozent. Die Probleme bei der Strompreisentwicklung seien jedoch auch hausgemacht, sagte Giehl und verwies auf den Missstand, das bestehende Kraftwerkskapazitäten zu leichtfertig aufgegeben wurden. Giehl erwartet, dass sich die Lage im Winter 2024/25 entspanne. Dann stünden auch mehr Terminals für die Energieanlandung zur Verfügung.

Bezüglich der Preise und Versorgung mit Energie zeigten sich Giehl wie Pieper "auf mittlere Sicht" positiv. "In zehn bis 15 Jahren werden Energiepreise dramatisch runtergehen", sagte der CDU-Mittelstandspolitiker. Voraussetzung sei jedoch, zum Beispiel ein neues System der Preisfindung. Auch müssten die EU-Länder zügig Ziele für die Einführung von grünem Wasserstoff festlegen.

Abhängig von Energieimporten

Die EU bleibe auch künftig von Energieimporten abhängig. "Wir werden eine gigantische Importstrategie brauchen", sagte Pieper. Hoffnungen setzt die EU offensichtlich auch auf die Ukraine. Das Land verfüge über die zweitgrößten Gasvorkommen in Europa. "Es wird eine Renaissance dieser Energie geben", sagte der CDU-Europapolitiker abschließend. "Uns hilft kein Programm weiter, das in 15 Jahren eine neue Normalität bringt, wir brauchen etwas, das in drei Monaten greift", sagte Stefan Füll. Auch angesichts des Nachwuchsmangels würden sich manche ältere Handwerksunternehmer fragen: "Warum soll ich jetzt, fünf Jahre vor Schluss, nochmal viel Geld in die Hand nehmen?"

Aus Brüsseler Perspektive sei das deutsche Handwerk bei der "grünen Transformation" gut aufgestellt und besser als andere in der Lage, einen "externen Schock" abzufedern, sagte Schreiber und forderte die Betriebe auf, verstärkt grenzüberschreitend tätig zu werden. Studien zum Konsumverhalten in der derzeitigen Krise zeigten, dass die Verbraucher mehr für Essen und für ihr Haus ausgeben. "Das Handwerk hat auch grünen Boden", sagte Frank Dittmar, Präsident der Handwerkskammer Kassel und forderte für den Kampf gegen den Fachkräftemangel eine Bildungsoffensive und mehr Sozialprestige für Ausbildung und Tätigkeit im Handwerk. Für diejenigen, die Existenzängste hätten, sei monetäre Unterstützung geboten, sagte Dittmar.