Heute, am 23. Juni 2016, ist ein entscheidender Tag für die EU. Die Briten stimmen über den "Brexit" ab. Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union würde auch das Handwerk belasten. Für viele Betriebe ist die Insel ein attraktiver Markt. Welche Nachteile ein Austritt für die EU und deutsche Handwerksbetriebe hätte.
Steffen Range und Frank Muck

Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union würde vielen deutschen Handwerkern schaden. Sowohl Wirtschaftswissenschaftler als auch Spitzenvertreter des Handwerks werten die Lage der EU vor der historischen Entscheidung im Vereinigten Königreich als bedenklich. "Europa ist in der Krise“, sagt der ehemalige Verfassungsrichter Professor Udo Di Fabio. Die Situation sei "vollkommen verfahren“, äußerte sich auch Holger Schwannecke, Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH).
Die Briten stimmen am 23. Juni über den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union ab. Befürworter eines Austritts ("Brexit“) versprechen sich davon mehr Gestaltungsspielraum, sie sehen sich durch Brüssel bevormundet und übervorteilt. Die Regierung um Premierminister David Cameron dagegen wirbt für einen Verbleib in der EU. "Es könnte eng werden“, sagt der Ökonom Bert Van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik (CEP) in Freiburg.
Welche Folgen hätte ein Brexit für die EU?
Schockwellen in Europa
Sollten sich die Briten für einen Austritt aussprechen, bekäme ganz Europa die Schockwellen zu spüren. "Ein Brexit würde zu einer gewaltigen Verunsicherung führen, und Unsicherheit ist Gift für die Konjunktur“, befürchtet Professor Gabriel Felbermayr. Der Leiter des Zentrums für Außenwirtschaft am Münchner Ifo-Institut prophezeit eine Hängepartie, „denn die Neuverhandlung hunderter Verträge dauert eine lange Zeit“. Nach Ansicht des CDU-Europaabgeordneten David McAllister würde ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU "vermutlich erst im Jahr 2030 alle negativen Effekte zeigen". Die am stärksten betroffene Branche wäre die Autoindustrie, auch Elektronikbranche, Metallerzeugung und die Lebensmittelbranche würden leiden.
Für deutsche Unternehmen würde es "sehr viel uninteressanter, in Großbritannien zu investieren“, sagt Van Roosebeke. Geschäfte in und mit Großbritannien würden erschwert. Felbermayr verdeutlicht das am Beispiel des Autobauers BMW, der in England mehrere Werke betreibt: "Wenn BMW weniger Absatz in England macht, leiden darunter auch die Zulieferer und deren Zulieferer.“ Die Kaufkraft würde auch in Deutschland sinken. Marie-Theres Sobik, Außenwirtschaftsberaterin der Handwerkskammer Düsseldorf, befürchtet, dass die Dienstleistungsfreiheit eingeschränkt werden könnte – zum Nachteil des Handwerks. Gerade im Bau und Ausbau sowie bei Installationen ist der britische Markt für deutsche Betriebe lukrativ.
Gefahr für Statik der EU
Schlimmer als die wirtschaftlichen Einbußen wären die Folgen für die Statik der EU. Der "Brexit“ könnte Euroskeptiker in anderen Ländern – etwa Dänemark und Schweden – ermuntern, den Briten nachzueifern. Van Roosebeke: "Ein Brexit kann die EU spalten."
Derzeit erleben links- und rechtsgerichtete populistische Oppositionsparteien in Europa einen Aufschwung. Das wiederum beeinträchtigt die Kompromissbereitschaft der gemäßigten Regierungen, sie fühlen sich durch Populisten bedrängt. Konom Van Roosebe stellt fest: "Es gibt keinen Konsens über die Ziele in Europa." Verfassungsjurist Di Fabio sagt: "Fähigkeit und Raum zu Kompromissen sind bei allen Teilnehmern geschwunden, weil sie unter wachsendem populistischen Druck stehen."
Deutschland würde marktwirtschaftlichen Verbündeten verlieren
Mit Großbritannien verlören die Deutschen einen Verfechter unternehmerfreundlicher Positionen. "Die Briten stünden nicht mehr als marktwirtschaftliche Verbündete zur Verfügung“, sagte Felbermayr. (zum "liberalen Moment“) Bei der Reform der Agrarpolitik etwa hätten Deutsche und Engländer gut kooperiert "gegen Länder, die gerne Subventionen verteilen". Deutschland fiele es ohne Unterstützung der Engländer schwerer, den ausgabefreudigen Staaten rund ums Mittelmeer zu widersprechen. Van Roosebeke: "Im Süden Europas haben die Menschen andere Vorstellungen von der Rolle Europas. Sie ist ein Vehikel um Mittel zu verteilen."
Doch selbst wenn die Briten für einen Verbleib in der EU votieren, ist die Krise der Europas damit nicht ausgestanden. Viele Bürger sind besorgt, weil die EU-Staaten derzeit keine überzeugende Antwort liefern, wie Europas Außengrenzen gesichert, die Flüchtlinge gerecht verteilt und der Terrorismus wirksam bekämpft werden. "Alles an der Union scheint zweideutig, unentschieden, vernetzt und verschachtelt“, sagt Verfassungsjurist Di Fabio. Er rät zu einer "Inventur eines überkomplex und unwirksam gewordenen“ Rechts. "Es mag gegenüber den kühnen Projekten und Utopien langweilig klingen, vor allem aber langwierig: erst das Alte sanieren, dann das Neue fundieren." Eine Forderung, der sich ZDH-Generalsekretär Schwannecke anschließt: "Europa braucht eine Konsolidierungsphase" Europa ließe sich derzeit dadurch stärken, "das wir mehr Dezentralität wagen".
Welche Folgen hätte ein Brexit für Handwerksbetriebe?
Für viele Handwerksbetriebe ist Großbritannien ein attraktiver Markt. Ein Austrit könnte deutliche Nachteile für sie bringen.
Franz Hilmer würde einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU sehr bedauern. Für den Inhaber der Firma Formtech ist das Geschäft mit Großbritannien sehr wichtig. Ein Drittel des Jahresumsatzes macht der Formenbauer aus dem niederbayerischen Niederwinkling mit Sonderbauteilen für Formel-1-Rennställe in England – rund zwei Millionen Euro.
Es drohen Handelsbeschränkungen
Hilmer fürchtet, dass sein Geschäftsmodell sehr darunter leiden würde, denn das beruht vor allem auf dem schnellen, unbürokratischen Warenaustausch mit England. Der große Vorteil: Formtech ist genauso schnell wie englische Firmen. "Wenn wir etwas rüberschicken, ist es am nächsten Tag da", sagt Hilmer. Bei einem Austritt könnte dieser Vorteil verlorengehen. Der Warenverkehr mit der Schweiz zum Beispiel sei durch Zollformalitäten deutlich aufwendiger und bürokratischer.
Grundsätzlich sind die Konsequenzen eines Austritts nur sehr schwer absehbar. Es gibt dafür kein historisches Vorbild. Hunderte Verträge müssten neu verhandelt und die geschäftlichen Beziehungen auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden. Die Verhandlungen mit der EU über den Austritt würden sich rund zwei Jahre hinziehen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG geht jedoch davon aus, dass sich deutsche Exporte allein schon wegen einer Abwertung des Pfund verteuern werden. Außerdem drohen Zölle und andere Handelsbeschränkungen.
Marie-Theres Sobik hält einen Brexit für grundsätzlich negativ. Da ist sie sich mit vielen namhaften deutschen Wirtschaftswissenschaftlern einig. Die Außenwirtschaftsberaterin der Handwerkskammer Düsseldorf kann auch nur Vermutungen über mögliche Folgen eines Austritts anstellen, fürchtet aber, dass die Briten den Marktzugang einschränken könnten. Möglich wären zum Beispiel Änderungen bei der Visafreiheit, so dass Mitarbeiter deutscher Firmen nicht mehr unbürokratisch in England arbeiten könnten. Der Markt für Dienstleistungen würde leiden – für Sobik eindeutig ein Verlust.
Großes Potenzial im Bau- und Ausbaugewerbe
Großbritannien ist nach den USA und Frankreich der wichtigste Exportmarkt für Deutschland. Laut Statistischem Bundesamt hatten die deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich im Jahr 2015 einen Wert von rund 89 Milliarden Euro. Laut Zentralverband des Deutschen Handwerks liegt der Exportanteil handwerklicher Leistungen bei acht Prozent insgesamt. Welchen Umfang dieser mit Großbritannien einnimmt, ist nicht bekannt.
Für das deutsche Handwerk sieht Sobik durchaus weiteres Potenzial – gerade auf der Insel. Sobik hat sich auf Großbritannien spezialisiert und weiß, wie lukrativ der Markt für deutsche Handwerker ist. Die Renovierungs- und Sanierungsquote für Gebäude auf der Insel ist sehr hoch und steigt nach der Immobilienkrise Ende der 2000er-Jahre wieder an. Die Qualität deutscher Bau- und Ausbaugewerke wird deshalb sehr geschätzt. Und der Markt sei noch längst nicht ausgeschöpft. England hat laut Sobik den ältesten Gebäudebestand Europas, aber kaum Betriebe, die in der Lage sind, diese Arbeiten auszuführen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Installationen. Die Deutschen bieten gute Leistungen zu attraktiven Preisen in hoher Qualität.
Bislang war die Annahme von Aufträgen auf der Insel kein Problem. Gerade wenn sie von Privatleuten kamen, mussten Handwerker aus der EU keine Nachweise über ihre Qualifikation oder Kenntnisse zum englischen Arbeitsschutz erbringen. Normen sind EU-weit harmonisiert. Lediglich bei größeren Baustellen, bei denen deutsche Handwerker oft als Subunternehmer tätig sind, müssen sie Schulungen zum Gesundheits- und Arbeitsschutz durchführen und einen Qualifikationsnachweis für ihre Mitarbeiter nach englischer Einstufung vornehmen lassen.
Zölle könnten deutsche Produkte verteuern
Für Luisa Kynast und ihre Kollegen ist das ganze Englandgeschäft, oder überhaupt das Geschäft mit Kunden im Ausland, eine ständige Herausforderung. Wohlgemerkt eine positive. Ihre Unternehmen, die Kynast Elektroanlagen GmbH und w&k Elektrotechnik GmbH aus dem thüringischen Dermbach/Rhön, ist seit Beginn der 2000er-Jahre im Vereinigten Königreich erfolgreich tätig mit der Installation von Elektroanlagen und dem Verkauf von Schaltschränken. Mit weiter wachsenden Umsätzen. Neben der smarten Elektroinstallation in Häusern technikaffiner Privatkunden kümmert sich Kynast hauptsächlich um die Installation in den Märkten eines deutschen Discounters. Kynasts Auftragsvolumen wächst mit dessen Expansion.
Was im Falle eines Brexits geschieht, darüber kann auch Luisa Kynast nur spekulieren. Sie befürchtet, dass sich vor allem der Verkauf der in Deutschland hergestellten Schaltschränke durch zum Beispiel Zölle verteuern könnte.
Franz Hilmer würde den Austritt nicht nur aus geschäftlichen Gründen bedauern. Die Zusammenarbeit sei stets sehr angenehm, fast freundschaftlich. Für ihn gehört England einfach zur EU dazu. Luisa Kynast erkennt auch fürs eigene Unternehmen weitere Vorteile. Nach einer anfänglichen Hemmschwelle, ins Ausland zu gehen, habe sie gemerkt, dass jeder neue Auftrag mit seinen neuen und jeweils anders gearteten Anforderungen das Unternehmen und auch die Mitarbeiter flexibel halte. Kynast: "Das weitet unseren Blickwinkel."